Das Cabinet des Doktor Caligari, begleitet von Mikropolis

Das Cabinet des Doktor Caligari, begleitet von Mikropolis, am 24.03.2003 in der MBIrre
Zwischen Sinn und Wahnsinn passt immer noch eine Zwangsjacke

„Filmpreise sind wie Hämorrhoiden: Irgendwann bekommt sie jedes Arschloch.“ Eine Erkenntnis von Billy Wilder ist das, und einen Abend nach der Oscar-Verleihung 2003 sitze ich in einem unterirdischen Gewölbe der MB und denke darüber nach, wie lange man eigentlich in der Filmbranche sein muss, um so zu reden. Zu lange vermutlich.

Der heutige Abend jedoch hält eine Rarität aus einer Zeit bereit, in der es noch keine Filmpreise gab, da sich das Kino gerade erst selbst erfand. Am 27. Februar 1920 feierte ein deutscher Stummfilm Premiere, der auch heute – in Dolby-Surround-Zeiten – nichts an Wirkung und Aktualität eingebüßt, sondern vielleicht sogar dazu gewonnen hat: Das Cabinet des Doktor Caligari (siehe auch Almanach-Text vom 23. Februar 2002).

Ein Klassiker, da sind sich die Kritiker einig, denn „ein Fiebertraum wird bewusst in eine künstlerische Sphäre eingeordnet, die auf ganz neue, unverbrauchte Mittel angewiesen ist; wie ein Fiebertraum wirkte dieser Film, der in wilder Zeit seine Uraufführung erlebte“ (Rudolf Kurtz 1926). Heute also vielleicht ein wenig mitfiebern und zudem gespannt sein auf das Duo Mikropolis, das mit eigener Klaviermusik und Texten für die Geräuschkulisse zuständig ist.

Doch zunächst: Was hat es auf sich mit dem Doktor und seinem mysteriösen Cabinet? Caligari ist der Direktor einer Irrenanstalt, frönt aber selbst einem nicht als gesund zu bezeichnenden Hobby: Mit einem Somnambulen namens Cesare zieht er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und präsentiert den Patienten der schaulustigen Menge. Doch damit nicht genug: Der Schlafwandler ist darauf programmiert, des Nachts durch die Straßen zu ziehen und auf Befehl des Arztes Menschen zu töten, denen er tags zuvor im Jahrmarktszelt ihr baldiges Ende vorausgesagt hat. Als kurz darauf auch der beste Freund von Franzis, einem jungen Mann, ermordet und seine Angebetete entführt, aber wieder freigegeben wird, steht für diesen fest: Der dämonische Doktor Caligari (von Mikropolis als „trunkene Wanze“ charakterisiert) hat seinen hilflosen Schützling instrumentalisiert, um die Macht zu erproben, die man über einen willenlosen Menschen haben kann.

Es kommt, wie es kommen muss: Franzis späht einige Male durch das Schaustellerwagen-Fenster des Arztes und ertappt diesen beim Manipulieren des Kranken, die entführte Jane identifiziert den Schlafwandelnden als Täter und im Irrenhaus finden sich Manuskripte von Caligari, die seine bösartigen Absichten klar dokumentieren. Der Fiesling taumelt schließlich, überführt und vom Wahnsinn zerfressen, durchs Bild, hin- und hergeworfen von seinen inneren Stimmen, die immer noch keine Ruhe geben. So weit, so gut: Das Böse scheint besiegt. Doch dann sieht man Franzis im Garten des Irrenhauses sprechen, die ganze Geschichte bis hierher hat er einem Irren erzählt. Kurz darauf im Hof der Anstalt: Jane – eine Irre. Cesare – ein Irrer. Doktor Caligari – tatsächlich Direktor, macht aber keineswegs einen wahnsinnigen Eindruck. Franzis, offensichtlich auch ein Patient des Arztes, wird in eine Zwangsjacke gesteckt und weggesperrt. Ende des Films, bedrückend ausklingende Klavierakkorde, langsam wird einem das ganze Ausmaß des eben Erlebten klar.

Der skrupellose Arzt, gespielt von Werner Krauß, während des ganzen Filmes zutiefst unsympathisch mit seinem feisten Gesicht, dem diabolischen Grinsen, den ganzen Manipulationen – nur ein Produkt der Fantasie eines wahnsinnigen Franzis`- Irritierend, genau wie die abwechselnd gelb-, grün- und blaustichigen Bilder, die unwirkliche, zweidimensional zerklüftete Kulisse, die manchmal unfreiwillig komischen Bewegungen der Schauspieler (riesige Augen! zuckende Arme!), die Schatten überall – und die Musik.

Das Klavier grollt, das Klavier singt, es schreit und zittert, manchmal schweigt es auch ganz. Es tut dem Film damit einen großen Gefallen: Nichts wird erklärt, nichts wird vorausgedeutet, der Wahnsinn wird abgebildet, wie er hier ist: Unverständlich und manchmal von einer bizarren Schönheit. Die Texte genauso: Zuweilen wie ein melancholisches Lichtenstein-Gedicht, dann wie die Notizen eines Verrückten, und allesamt könnten sie von Franzis stammen. Respekt, Mikropolis!

Vielleicht ist das ein Film, den man erst lange nach dem Sehen versteht oder auch nie; über die und das Irren, Schein und Sein, Manipulation und mehr. Fest steht, dass man jetzt mehr denn je Alfred Hitchcock zustimmen kann, der sagte: ?Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.?(Friederike Haupt)

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