29.03.2003 Schauspiel Leipzig, Neue Szene
Shockheaded Peter (Struwwelpeter) Premiere
von Phelim McDermott und Julian Crouch nach Dr. Heinrich Hoffmann
Musik von Martyn Jacques (The Tiger Lillies)
Musikalische (Neu)Einrichtung und Einstudierung: Thomas Hertel
Regie: Ulrich Hüni
Bühne und Kostüme: Katja Schröder
Darsteller:
Michael Schrodt, Jana Bauke, Günter Schoßböck, Torben Kessler, Nicola Ruf (Constanze Becker), Dominik Schiefner, Henriette Markert (Edith Scholz)
Kindchen stirb, die Suppe wird kalt
oder Der Alptraum Kinderwunsch
?Manchmal verlangt das Leben von uns, grausam zu sein. Und manchmal sind wir grausam ? nur so zur Entspannung.? Der garstige Struwwelpeter ist in dem Fall ein garstiger Theaterdirektor und der gibt solche Sätze von sich. Und in der Tat fragt man sich beim Lesen des vielleicht bekanntesten deutschen Kinderbuchs, ob hier der Spaß an der Grausamkeit dominiere und ob der erhobene Zeigefinger hinter den bunten Horrorstammbuchbildern nicht ebenso abgeschnitten gehöre wie der Daumen des armen Conrad.
Aber gegen den Ernst des Lebens und der Pädagogik hilft nur die Übertreibung in der Kunst. Daher sterben in Shockheaded Peter auch die Kinder, die bei Dr. Hoffmann gerade noch mit dem Leben davongekommen sind. Der Zappelphilipp wird mit Messer und Gabel erstochen, nachdem er das Tischtuch heruntergezerrt hat, der Daumenconrad verblutet an seinen Wunden und dem bösen Friederich werden mit der Geburtszange die Eingeweide aus dem Leib geschleudert. Naja, ein bisschen Blut muss schon sein, damits auf der Bühne schön bunt wird. Denn die Dekoration zeigt ein steriles Juppipärchendesignerzimmer im zarten Giftgrün mit Schachbrettfußboden.
Aber dann wirds wirklich zu bunt, denn das Pärchen wünscht sich ein Kind und geht an diesem Wunsch langsam uns systematisch zugrunde. Besser gesagt, der Wunsch führt beide in den Wahnsinn, denn er ist mit unaufhörlichen Alpträumen verbunden. Und diese Alpträume sind die Geschichten von Dr. Hoffmann, die auf diese Weise höchst amüsant umgedeutet werden als die Archetypen der Angst kinderloser Erfolgsmenschen vor der Unberechenbarkeit des Kindseins. Die führt letztendlich nur zu Kampf und Tod und Chaos.
Und so beginnt eine wahre Horror-Picture-Show, eine Mischung aus Moritat, Gruselkabinett, Rockmusical und makabrem Varieté. Die Kostüme lassen kein Klischee aus, die Musik ebensowenig. Auf diese Weise kommt jeder auf seine Kosten. Manche Bilder sind geradezu zweidimensional, wie aus dem Buch ausgeschnitten (so beim Zappelphilipp und beim Friederich), manche spielen mit Andeutungen, wenn etwa der Nikolaus als Nosferatu erscheint und die bösen Buben killt. Auch die Scheren- und Messerhände der lieben Kleinen sind nicht ohne und das teuflische Grinsen des Theaterdirektors, der auch ein Pantomime oder Conférencier sein könnte, lässt kalte Schauer über den Rücken laufen.
Musikalisch geht es richtig zur Sache, dank der musikalischen Neufassung von Thomas Hertel. Jazzige, rockige, revuehafte und auch modernere Tanzmusikelemente werden gekonnt gemischt, sind nie langweilig, voller Anspielungen und dennoch originell. Eine tolle Combo sitzt hinterm Vorhang und die singenden Schauspieler machen manchem Popstar echte Konkurrenz.
Ein schriller, schräger Abend, voller Witz und Übergeschnapptheit und mit derben Sticheleien gegen die pseudokinderfreundliche Gesellschaft. Das zu sehen, ist seinen Spaß wert, vielleicht wirds ja die Kultinszenierung der Saison.
(Marcus Erb-Szymanski)
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