Szenische Lesung mit Jens Paul Wollenberg „Der einsame Selb” (Max Bornefeld-Etmann)

10. April 2003, naTo
Szenische Lesung mit Jens Paul Wollenberg ?Der einsame Selb?
Begleitung durch Valeri Funkner


Der Wanderer in Richtung Muttermund

Der Akkordeonist Valeri Funkner quetscht die Kommode, auf die Bühne tritt Jens Paul Wollenberg. Überraschend gereimt gehen Chanson und Tango einher. Was ist das für eine Erscheinung ? zwischen vierzig und sechzig, groß, Bart, lange braune Haare, zeitweilig zusammengebunden, dann demonstrativ wallend, es fehlt nur die Muschel und er wäre die Venus. Ein Akrobat der Stimme, der Ausdruck bisweilen hemmungslos laut und die Sätze über die Maße betont. Die eingefügte Begrüßung kommt beiläufig daher und stimmt dennoch schon mit Satz- und Sinnbrüchen auf das ein, was auf die Lieder folgen wird. Doch erst einmal bricht Wollenberg die Herzen des Publikums, indem er seine alte Post-Oberassistenten-Uniform anzieht und mit einer Bierdose in der Hand und scheinbar eingebüßtem Sprachvermögen einen betrunkenen Postboten gibt, der neben fast unverständlichen Tiraden Sonnenschein in den Saal strömen läßt, indem er singt:

?Was mir fehlt, ist das Meer!?

Kaum hat man sich eingerichtet, beginnt die Reise. Man begleitet den Wanderer Ernst Piontek in Richtung Muttermund. Die Entfernungen zwischen den benachbarten Lebensorten des eigentümlichen Herren sind nicht sehr groß, und doch liegen zwischen Museumsinsel, Nagelstudio, Wohnung und Stammkneipe unüberwindbare Distanzen. Ganz zu schweigen davon, daß man sich auf den Wegen selbst in die Quere kommen kann. Nein, nicht daß ich ich aufhalte, weil ich zwischenzeitlich Einwände gegen diesen Weg hätte ? ich stehe mir nicht nur sinnbildlich im Wege, sondern sehe mich mir selbst gegenüber. Vielmehr ist es so, daß in der Stammkneipe ich sowohl hinter dem Tresen stehe wie auch an einem Tisch sitze, derweil ich durch die Eingangstür trete. Aber wäre ich nur zu dritt. Es kommt auch vor, daß ich auf der Straße einer Prozession von ich begegne. Ein rechtes Selbstgespräch kommt nicht in Gang. Doch Vodka und Hasselbräu helfen dabei, nicht nur nach dem Ausgang aus dem Spiegel, sondern auch nach dem eigenen Schatten zu suchen, der sich selbständig macht.

Vor ein paar Wochen fanden in Leipzig die Daniil-Charms-Tage statt. ?Reden wir nicht weiter drüber…? hieß das Programm von Jens-Paul Wollenberg, in dem er Charms rezitierte. Charms hat neben dem Witz einen zweiten Ton, der bei jedem Wort mitschwingt und der von Brutalität kündet (vgl. Leipzig Almanach vom 13.01.03). So herrlich die Geschichte vom einsamen Selb ist und so sehr die Lust zu Lachen ausgelebt werden kann, ist auch hier etwas, was durchscheint in Formulierungen wie ?Ich steige verdammt noch mal aus mir aus? und ?Die Schreibmaschine, die Hebamme der Finsternis?. So ist es auch eine Erleichterung, als Valeri Funkner sich hinter Piontek/Wollenberg/Selb auf die Bühne schleicht, um die Veranstaltung musikalisch ausklingen zu lassen.

(Max Bornefeld-Ettmann)


Die nächste Veranstaltung mit Jens Paul Wollenberg:
26.04.03 ?Bericht an eine Akademie?, Szenische Lesung Franz Kafka
Leipzig – Stötteritzer Margerite, Café Canapee

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.