?La Sonnambula? von Vincenzo Bellini, die jüngste Inszenierung im Repertoire der Oper Leipzig
Erstes Werk des Zyklus ?Belcanto-Oper?
Premiere: 05.04.2003; besprochene Aufführung: 17.04.2003
Musikalische Leitung: Frank Beermann
Inszenierung: John Dew
Bühne: Thomas Gruber
Kostüme: José Manuel Vazquez
Choreinstudierung: Stefan Bilz
Gewandhausorchester
Chor der Oper Leipzig
Belcanto im Heimatfilm
Zu den vorrangigen Zielen, die Henri Maier, Intendant der Oper Leipzig in der Nachfolge von Udo Zimmermann, in den ersten fünf Jahren seiner Amtszeit erreichen möchte, gehört der Aufbau eines leistungsfähigen Sängerensembles, das in der Lage ist, die meisten großen Rollen aus den eigenen Reihen zu besetzen. Das Repertoire soll beträchtlich erweitert werden und die Qualität der Inszenierungen die Feuilletonisten der großen europäischen Zeitungen nach Leipzig locken. So jedenfalls hat es Maier vor Amtsantritt in Interviews angekündigt (vgl. u.a. Leipzig-Almanach v. 19.07.2001).
Nach der jüngsten Inszenierung von Bellinis ?La Sonnambula?, mit der ein ganzer Zyklus ?Belcanto-Oper? beginnt, sind die Meinungen geteilt. Die einen sehen das Opernhaus auf dem rechten Weg, die anderen zweifeln einmal mehr daran, dass Zweck und Mittel immer richtig aufeinander abgestimmt sind. Aber das hat nicht nur mit der konkreten Art und Weise etwas zu tun, wie John Dew und das Inszenierungsteam die ?Schlafwandlerin? lesen, sondern vor allem mit der Tatsache als solcher, dass junge und in dem Metier wenig erfahrene Sänger gleich ins Belcanto-Fach geworfen werden.
Die Handlung dieser Oper (Libretto: Felice Romani) ist schnell erzählt. In einem schweizer Bergdorf möchte ein holdes und unschuldiges Mägdelein, Amina, ihren Liebsten, Elvino, heiraten. Unglücklicherweise verirrt sie sich in der Nacht vor der Hochzeit während eines schlafwandlerischen Ausflugs ins Bett des Grafensohnes Rodolfo, der anständig genug ist, die Situation nicht auszunutzen. Dennoch ist die Eifersucht des Bräutigams durch nichts zu besänftigen, Intrigen der Nebenbuhlerin Lisa tun ein Übriges, und schon führt der Gatte in spe eine andere vor den Altar (in Opern geht das ganz schnell). Erst eine zweite Schlafwandlerszene, bei der ? glücklicherweise ? das ganze Dorf anwesend ist, beweist die Unschuld der zu unrecht Verdächtigten und alles endet gut. Wie man sieht, kein Drama für schwache Nerven.
Je weniger auf der Bühne passiert, desto mehr müssen die Hauptdarsteller ihr Können beweisen. Bellinis Oper ist voll und ganz auf die Hauptpartien zugeschnitten. Die Musik besitzt etwas sich Verflüchtigendes, Schwebendes, ist selbst fast wie ein Traum. Umso mehr verlangt sie schlafwandlerische Sicherheit von den Sängern. Eun Yee You als Amina besitzt sie über weite Strecken. Als Darstellerin ist sie ausdrucksstark genug, die Inszenierung durch ihren Gesang und ihr Spiel zu prägen. Vor allem in der zweiten Schlafwandlerszene demonstriert sie ihre wunderbaren Fähigkeiten. Leise und innig klingt ihr Singen, wie fernes Glockenläuten. Doch um restlos zu überzeugen, fehlt der weichen und warmen Stimme das Durchdringende, Souveräne, und damit etwas, das auch und gerade die leise Virtuosität der Partie verlangt. Die schwierigen Koloraturen wirken unsicher, sind mehr approximativ als lupenrein und demzufolge auch nicht von ebenso großer Ausdruckskraft wie die sonstigen Passagen. Im Duett mit Shalva Mukeria (Elvino) wird die Sängerin fast übertönt.
Denn Mukeria besitzt eine richtige Belcanto-Stimme. Metallisch strahlend, mit dem nötigen Schmelz, wenngleich auch etwas schnarrend. Ihm fehlt es dafür an individuellem Ausdruck, das Betörende des Tenors klingt töricht, wenn sein Gesang zu aufdringlicher Rührseligkeit wird und sich die Aufmerksamkeit des Interpreten statt auf den Charakter der Rolle nur auf den Klang der Stimme richtet. Zumal auch hier die ausschweifenden Koloraturen stets nur Annäherungen an die eigentlichen Töne sind und daher angestrengt klingen. Die richtige Einheit von Spiel und Gesang ist in der Rolle der Lisa zu erleben. Ainhoa Garmendia gefällt als intrigante Wirtin und Nebenbuhlerin. Auch sängerisch überzeugt sie, solange wenigstens, wie sie nicht die schrillen Gipfel ihres Stimmumfangs erklimmen muss. So ist man regelrecht dankbar über kleinere Rollen, wie die Basspartie des Rodolfo (Felipe Bou), in denen den Interpreten nicht so viele virtuose Fallstricke gelegt werden.
Nun hätte unabhängig von den Sängern eine phantasievolle Regie mit Ironie und Hintersinn aus dem Ganzen eine unterhaltsame Geschichte machen können. Und Regisseur John Dew, der mit seinen Popart-Mozartopern das Leipziger Publikum teils begeisterte, teils verschreckte, scheint dafür in der Tat der geeignete Mann zu sein. Doch weit gefehlt. Trotz eines durchaus witzigen Bühnenbildes, das aus Spielzeugeisenbahn-Alpenlandschaft mit Milka-Kuh und Gummitannenbäumchen, Kuhmustertapete und karierter Bettwäsche in der Pension und einer poppigen Alpenbildleinwand als Vorhang besteht, verläuft die Handlung im Stile eines Heimatfilms. Der Chor, der musikalisch gefällt, ist szenisch eine einzige Trachtenparade und die männlichen Protagonisten stehen mit einer Hilflosigkeit auf der Bühne herum, dass man ihnen die heilige Einfalt ihrer Rolle als Dorfjüngling viel zu schnell abnimmt. Die bemüht komischen Slapstick-Einlagen eines trippelnden und kopfwackelnden Notars reißen nichts mehr heraus. Und wie um alles in der Welt sollen auch Belcanto und Heimatfilm zu einander finden, wenn man von schlimmstenfalls irreführenden Assoziationen wie Alphornklängen einmal absieht?
So bleibt als Letztes das Orchester, um Schwung in die Inszenierung zu bringen. Verheißungsvoll ist der Beginn. Luftig und leicht klingt die Musik, unaufdringlich und geradlinig führt der Dirigent durch die letztendlich doch eher schlicht und elegant angelegte Komposition. Doch bei der Begleitung der Solisten kommt das Orchester nicht von der Stelle. Wohl aus Rücksicht auf die schwierigen Passagen der Sänger werden alle Tempi extrem langsam angegangen, so dass aus der Oper ein einziges Herz-Schmerz-Lamento wird. Die Langsamkeit an sich wäre nicht das Problem, doch die Gefahr des Schleppens und Zerrens und nicht von der Stelle Kommens ist allgegenwärtig. So werden der statische Eindruck der Inszenierung und die Rührstück-Idylle durch musikalisch sentimentale Monotonie noch verstärkt. Und sämtliche Aufmerksamkeit und Verantwortung für das Gelingen der Inszenierung verbleiben so bei den Solopartien, womit die jungen Interpreten vor allem wegen der schwierigen Koloraturen überfordert scheinen.
Resümierend lässt sich daher sagen, dass sowohl die Idee, das Repertoire um italienische Belcanto-Opern zu bereichern, als auch die Idee, ein leistungsstarkes Ensemble aufzubauen, grundsätzlich begrüßenswert sind, aber dass sie sich gegenseitig zu behindern beginnen, wenn junge Sänger mit ihren Rollen und mit ihrer Verantwortung für die jeweilige Inszenierung überfordert werden. Das scheint diesmal der Fall zu sein, auch wenn sich das Leipziger Publikum weitaus dankbarer und weniger streng zeigt, als es die Publizisten der großen europäischen Zeitungen gewiss wären.
(Marcus Erb-Szymanski)
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