Schmerzvoller Blick zurück

György Konrád schreibt in ruhigem Ton und ohne Groll über sein Überleben der NS-Zeit

Die Erinnerung ist eine janusköpfige Gestalt. Oft bleiben die Ereignisse haften, die man lieber vergessen möchte. Schöne Momente verblassen hingegen mit den Jahren. Im März 1945 sollte der elfjährige Schüler György Konrád einen Aufsatz schreiben. Das Thema lautete „Warum liebe ich meine Heimat?“ Das war ein denkbar unpassender Zeitpunkt, um diese Frage in einem positiven Licht beantworten zu können. Denn Konrád war nur knapp der Deportation nach Auschwitz entgangen. Am Ende waren er und seine Schwester die einzigen überlebenden Kinder aus seinem Heimatdorf Berettyóújfalu. Die daraus folgende Einsicht: „Mein Vaterland wollte mich umbringen.“

In György Konráds Erinnerungen überwiegen in den ersten Lebensjahren die schönen Momente. Er wächst in einer wohlhabenden Familie auf, behütet vom deutschen Kindermädchen. Er erinnert sich an die Kutscher und ihre höckerartigen Muskeln, an das prasselnde Kaminfeuer, das Eisenwarengeschäft des Vaters, den Duft von Quarkkuchen und Milchkaffee und den Storch, der auf den Zinnen der Synagoge nistet. Doch über die Idylle legte sich bald ein Schatten. Konrád erinnert sich, dass er schon am ersten Tag der deutschen Besetzung Ungarns ahnte, was auf die jüdische Bevölkerung zukommen würde. Die ersten Anzeichen gab es in der Schule, wo Lehrer ihrer Sympathie für die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nationalsozialisten, unverhohlen Ausdruck gaben.

Was ist Schicksal, was ist Glück? Konrád vermag diese Fragen nicht zu beantworten. Sein Buch beschreibt eher, welche Wendungen das Leben bereithalten kann und wo eine Kopfbewegung nach links oder rechts über Tod oder Leben entscheidet. Seine Eltern überlebten, zynischerweise durch die Denunziation des örtlichen Konditormeisters. Konrád gelang es, gemeinsam mit seiner Schwester nach Budapest zu reisen. Einen Tag, bevor die gesamte jüdische Bevölkerung von Berettyóújfalu deportiert wurde.

Konráds Buch kreist um die wechselhaften Zufälle, die ihn überleben ließen. Die stoische Ruhe, ja man möchte es fast schon Gleichgültigkeit nennen, mit der er sich erinnert, ist erschütternd. Konrád war damals dreizehn Jahre alt, doch in Wahrheit wohnte bereits ein Erwachsener in seinem jugendlichen Körper. So tut er sich schwer, mit dem Glücksgefühl umzugehen, überlebt zu haben. Ist es doch eigentlich das Gefühl, an der Stelle anderer zu leben, die nach der Deportation nicht zurück gekehrt sind. Wenn die Angst zu einem alltäglichen Phänomen wird, dann hat man keine Angst mehr. Dann wird sie nicht mehr als solche wahrgenommen.

Während der diesjährigen Leipziger Buchmesse war György Konrad zu Gast in einer Sendung des MDR. Die Moderatorin war mit der Abgeklärtheit und dem Pragmatismus des Romans mehr als überfordert. Wiederholt fragte sie Konrád, ob es denn nicht gefährlich gewesen sei. Als ob die Flucht vor dem Tod ein Spiel im Pfadfinderlager wäre. An einer Stelle schreibt Konrád: „Leichen habe ich im Winter 1944/45 zur Genüge gesehen. Dass auch ich unter ihnen sein würde, konnte ich mir vorstellen, und das war ein unangenehmes Gefühl, doch derartiges Phantasieren wurde durch das, was einem der Alltag abverlangte, überdeckt, in der Gefahr wird der Mensch praktisch.“ Trotz der dramatischen Ereignisse seiner Kindheit schreibt Konrád seine Erinnerungen ohne Groll. Die ruhige Erzählweise Konráds ist für den Leser ein Glücksfall.

György Konrád: Glück
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003
160 Seiten, geb., 19,90 €

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