„Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen”: Les Murray im Haus der Buches (Grit Kalies)

30. April 2003, Haus des Buches
Les Murray ?Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen?


Der gewöhnliche Dichter

Der erste Eindruck ist der der Stimmigkeit. Auf einem Stuhl sitzt ein Mensch, der nur an den Lippen bewegt wird, alles andere ist unbewegt. Schwer ist er, sehr schwer. Wiegt er mehr als 130 Kilogramm? Die englischen Worte rasseln aus dem Mund, sowie die deutschen verklungen sind. Keine Kunstpause. Die Worte sind nicht ganz. Beim Vorlesen werden sie vernuschelt oder abgeschnitten oder nur halb artikuliert, den Rest muß man sich denken. Man denkt sich den Rest. Man beginnt zu denken.

Das Gehörte wirkt einfach, es wirkt. Der gewöhnliche Dichter ist ganz Sprache. Sie ist seine körperliche und geistige Präsenz. Er trägt ein rötlich-braunes, kurzärmeliges Hemd, das in einer dunklen Hose steckt. Er trägt eine Brille. Sagt uns das etwas? Er redet. Ungespreizt, unprätentiös. Fast gemütlich wirkt sein Gerede, lose, echt. Er setzt sich nicht in Szene. Der gewöhnliche Dichter sitzt auf einem Stuhl.

Ich habe viele ungewöhnliche Dichter gesehen und gehört in der letzten Zeit. Gestelztes, Geschwafeltes, Gewolltes, Gezinktes. Eitles. Da freut man sich, wenn man dem Gewöhnlichen wiederbegegnet. Man hat es ja lieb gewonnen. Man hat sich daran gewöhnt.

Der gewöhnliche Dichter stammt aus kleinem Ort hundertfünfzig Meilen von Sydney. Er hat studiert und ein Rilke-Wort wahrgemacht, nach dem ein Dichter viele Städte kennenlernen und viele Menschen sprechen soll. Er war in der Schweiz, in Frankreich, er spricht deutsch. Seit 17 Jahren lebt er wieder in seiner Heimat. Er schreibt Prosa, Essays, Rezensionen, ist Herausgeber und Literaturredakteur. Aber das ist nur Haut. Der Kern des gewöhnlichen Dichters ist Poesie.

Heute hat der gewöhnliche Dichter eine Weltlesereise hinter sich und liest zum Abschluß in Leipzig. Er hat dreißig Zuhörer im dreiviertelbesetzten Raum, darunter fünfundzwanzig Frauen, darunter etwa zwanzig Englisch-Studentinnen. Neben dem gewöhnlichen Dichter sitzt die gewöhnliche Übersetzerin seiner Gedichte ins Deutsche. Sie heißt Margitt Lehbert, ist zart und sympathisch, lebt in Schweden und liest zuerst. Wenn sie gelesen hat ?Weißt du noch…?, liest er ?Remember…?.

Wenn sie das Gedicht über den autistischen Sohn auf deutsch liest: ?Wenn man ihn bittet zu lächeln, fotografiert er ein starres Lächeln auf sein Gesicht?, hält der gewöhnliche Dichter die Augen geschlossen. Die Brille steht auf dem fast kahlen Schädel, so dringen die Worte besser ein. Der gewöhnliche Dichter hört sich zu. Aufmerksam. Er hört auch die Zeilen: ?Doch du erinnerst dich nicht. / Ich werde sterben müssen, bevor du dich erinnerst? aus dem Gedicht ?Hochsommereis? für die Mutter, die starb, als er 12 war. Er hört: ?Armer Leslie,…, deine Hände sind kalt wie die Wohlfahrt.? Er hört: ?Man kann eine Lüge nicht beten? von Huckleberry Finn. ?Man kann sie auch nicht dichten?, hat der gewöhnliche Dichter hinzugedichtet. Das Gedicht heißt ?Dichtung und Religion?.

?Da stimmt was nicht, das fühle ich, ich bin sensibel dafür, wenn etwas an dem Ich nicht stimmt? hat mal ein gewöhnlicher guter Mensch gesagt, Professor und Germanist. Während wir über die Lesung einer Berliner Autorin sprachen und ich vorgeblich weiterredete, dachte ich über den Satz nach. Ich habe oft über den Satz nachgedacht und Unsinn geredet. Weshalb hier das Grundvertrauen? Wegen der kleinen genuschelten Zwischenbemerkung? Wegen der scheinbaren Fehlbarkeit, der Nahbarkeit? Wegen der abgeklärt wirkenden Intelligenz? Der Wärme, dem kurzärmeligen Hemd, der überquellenden Hose? Der gewöhnliche Dichter hält eine ?Saubohnenpredigt? und rasselt sein witziges Gedicht ?Sprawls? herunter. Er hat den Mut zur Wiederholung solange das Geheimnis reicht. Sprawls ist Geheimnis. Ein Essay, eine Erzählung, ein Gedanke. Alles wächst sich bei dem gewöhnlichen Dichter zum Gedicht aus, ein Essay in Gedichtform, eine gedichtische Kurzgeschichte, das Gelesene ist schwer in Kästen zu ordnen.

Man kann im April 2003 in Cambridge in eine Buchhandlung gehen und wieder hinaus, weil es nur überbunte, verschieden aufgepeppte und gleich aussehende Paperbackromane gibt. Man kann in einer zweiten Buchhandlung das gleiche erleben. In einer dritten findet man einen gut sortierten Bestand an festen Büchern und ein Regal Lyrik. Die typischen Sammelbände ?love poetry?, aber auch mehr als zwanzig Bände Ted Hughes, dann Sylvia Plath (stand sie eigentlich neben Hughes?), Shakespeare und bestimmt zehn Bücher von Les Murray, der seit Jahrzehnten als einer der wichtigsten Dichter Australiens zählt. Nur ein einziger Rilke, kein Goethe, kein anderer deutscher Dichter.

Das gewöhnliche Paar aus Übersetzerin und Autor liest schon länger als eine Stunde aus dem Band ?Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen? (Hanser, 1996), d.h., der gewöhnliche Dichter liest aus den englischen Originalen. Leider ist die deutsche Ausgabe kaum zweisprachig. Die Tier- und Lautgedichte (?Translations from the Natural World?) wirken vor allem in der Muttersprache. Fragen werden nicht gestellt. ?Poesie ist eigentlich unfragbar? sagt er. Und: ?Jede Sache hat sein natürliches Ende.? Bücher werden gekauft, signiert. ?Mit Begeisterung? schreibt er hinein. Mag sein, es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, daß Dichtung für den gewöhnlichen Dichter das ist, ?was es wirklich ist: eine Leidenschaft und eine Freude.? (Jorge Luis Borges)

(Grit Kalies)

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