Mein Herz – Mein Hund. Olga Knipper und Anton Tschechow in Briefen. Eine Lesung im Garderoben-Foyer des Schauspielhauses (Dajana Bajkovic)

09.05.2003 Garderoben-Foyer Schauspielhaus
Mein Herz – Mein Hund. Olga Knipper und Anton Tschechow in Briefen

Es lesen: Liv-Juliane Barine und Marco Albrecht


Will, will, will noch mehr davon!

Wer könnte sich nicht für den amourösen Briefwechsel zwischen dem berühmten Dramatiker Anton Tschechow und seiner Angebeteten, der Schauspielerin Olga Knipper interessieren? – Auf jeden Fall folgt niemand meiner Empfehlung, so dass ich allein die szenische Lesung besuche. Vielleicht fehlt manch einem auch nur die Zeit für einen Theaterbesuch. Schade, denn so entgeht ihm im Gegensatz zu mir und zu ca. 60 weiteren Zuschauern ein wunderbarer Abend.

Wunderbar ist nicht die Bühnenausstattung, denn sie besteht lediglich aus einer schwarzen Stellwand. Davor zwei schwarze kleine Podeste, auf denen jeweils ein Tisch mit Stuhl steht. Weder Kostüme noch Masken verzaubern mich. Um so faszinierter bin ich von den beiden Schauspielern, Liv-Juliane Barine und Marco Albrecht, die parallel von zwei Scheinwerfern fokussiert werden. Sie überzeugen nicht nur durch ihre einwandfreie Vortragskunst. Sie verstehen es vor allem, den Briefwechsel zwischen Anton Tschechow und Olga Knipper als ein Stück authentische Realität unmittelbar darzustellen.

Ich werde Zeugin davon, wie sich das Liebesverhältnis zwischen Tschechow und Olga entwickelt und wie sie sich als Künstler gegenseitig bestärken. Liv-Juliane Barine lässt mich mitfühlen, wie sehr die junge Olga den Dramatiker bewundert und liebt. Ihr ständiges Bitten, er möchte doch bald nach Moskau kommen, wird zu meinem eigenen und es scheint mir, als hätte ich selbst das Telegramm aufgesetzt: „Ich will, will, will dich sehen!“ Marco Albrecht entführt mich in das Innenleben Anton Tschechows: Ich bin im fernen Jalta und leide darunter, mich nicht persönlich mit der jungen Schauspielerin, die ich beim letzten Moskaubesuch kennen gelernt habe, unterhalten zu können. Tschechows ungeduldige Fragen, wann sein neues Stück aufgeführt und wie es vom Publikum angenommen werde, scheinen aus mir selbst hervorzubrechen, – jedoch – nicht auf diese witzige, verwegene, hintergründige Art, mit der Tschechow seine Fragen formuliert.

Olgas charmante Verträumtheit, ihre Freude über ihren Erfolg, ihr Hang zur Melancholie und ihr negatives Selbstbild, das sie gelegentlich verstimmt, sind mir bald ebenso vertraut wie Tschechows ironischer, amüsierter Blick auf die Gesellschaft. Ich weiß nicht, was tiefer wirkt: Seine Qual beim Schreiben, sein ungeduldiges, aufbrausendes und nach Freiheit durstendes Künstlernaturell oder seine Sehnsucht nach Olga, die bald alle Vorbehalte gegen die Eheschließung verstummen lässt. Die Krankheit zehrt an dem jungen Mann. So werden die seltenen gemeinsamen Tage mit Olga und die Briefe oder Telegramme an sie zu seinem Lebenselixier. Signiert er seine Briefe manchmal übermütig mit Antonio, Antoine oder Toto, scheint er damit seiner Lungenkrankheit den Kampf ansagen zu wollen.

Bevor Tschechow seinen Kampf verliert, verfolge ich seinen Schaffensprozess zu den „Drei Schwestern“ und zum „Kirschgarten“. Von Olga erfahre ich, welche Resonanz die Aufführungen dieser beiden Stücke nach dem Erfolgsstück „Die Möwe“ in Moskau bzw. St. Petersburg haben. Ich erlebe, wie Olga und Tschechow miteinander in Briefen kokettieren und sich bei Bedarf Mut und Zuversicht zusprechen, um beim nächsten Mal die Erwartungen des anderen hinzuhalten. Die Briefe erzählen von Olgas Wohnungssuche, von Tschechows Besuch bei Tolstoi, von Olgas Einsamkeit und von Tschechows Kinderwunsch, wenn er ihr schreibt: „Bemühe dich um unseren Halbdeutschen!“

Die Briefe dokumentieren auch Missverständnisse und Spannungen zwischen den Liebenden, die sich nicht immer nur säuselnd antworten. Sie können genauso gut auf dem eigenen Standpunkt beharren. Die bohrende Frage, ob Olga ihre neue Adresse Tschechow im letzten Brief mitgeteilt hat oder nicht, ist dramatisch, ist unlösbar. Barine und Albrecht setzen das eindrucksvoll in Szene, indem sie mit steigender Beharrlichkeit gegeneinander anlesen – bis ihnen Argumente und Luft ausgehen.

Unterbrochen wird der Briefwechsel von Zeiten, die Olga und Tschechow gemeinsam in Moskau, in Jalta oder auf der Hochzeitsreise miteinander verbringen. Diese Passagen werden von einer lebenskräftigen Sinfonie kommentiert. Kein Wort. Nur Pantomime: Barine und Albrecht mimen die jeweilige Stimmung, in der sich Olga und Tschechow befinden. Das schweigende Schauspiel steigert die Ausdruckskraft ihrer Gefühle, die sie in den Briefen verbal ausdrücken. Bei ihrem zweiten Treffen herrschen zwischen Olga und Tschechow Angst und Misstrauen. Die gezerrte Spannung greift von den beiden Schauspielern auf den Zuschauerraum über, der im folgenden Briefwechsel voller Erleichterung und mit Belustigung von Tschechow vernimmt: „Alles muss so bleiben, wie es war. Ich bin der beste Ehemann, wenn meine Frau nicht wie die Sonne jeden Tag am Himmel erscheint.“ Die unzähligen, liebkosenden Bezeichnungen, mit denen Tschechow Olga anredet, wie etwa „mein Krokodil, meine Säuferin, Liebchen, Herz, mein Pferdchen – iss tüchtig Hafer“ und vor allem das ständig wiederkehrende ?mein Hund, mein Hündchen“ verdeutlicht Tschechows beständig wachsendes Vertrauen zu Olga. Nachdem er sich ganz zu Anfang noch wie ein „umgepflanzter Baum“ gefühlt hatte, der sich nicht entscheiden kann, Wurzeln zu schlagen oder zu verdorren, hat er jetzt Wurzeln geschlagen. Am Ende ist er in der Lage, mit einem friedvoll ausgesprochenen „Ja umiraju.“ in den Armen seiner Geliebten schmerzlos zu sterben.

Der Erfolg ist groß. Ein Lächeln breitet sich über dem Publikum aus, und eine Woge des Zuspruchs zwingt Barine und Albrecht fünfmal auf die Bühne.

Ich will, will, will mehr davon!
Oder besser gesagt:
Das Leipziger Publikum will, will, will mehr davon!

Leider wird diese Lesung ebenso wie „Lederfresse“ im vergangenen Jahr (gelesen von Constanze Becker und Stefan Kaminsky) nicht wiederholt. Warum eigentlich nicht?

(Dajana Bajkovic)

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