Eine Frau unter Einfluß (A Woman under the Influence), ein Film von John Cassavetes (Roland Leithäuser)

Eine Frau unter Einfluß (A Woman under the Influence)
USA 1974, Buch und Regie: John Cassavetes
Darsteller: Peter Falk, Gena Rowlands u.a.
Filmkunsthaus naTo, 12. Mai 2003
Schwanensee und Hysterie
Die naTo zeigt Cassavetes‘ modernen Klassiker „A Woman under the Influence“

Ein lauer Maiabend, der nicht zum Kinobesuch einlädt. Doch ein plötzlicher, heftiger Schauer läßt unerwartet doch noch ein halbes Dutzend Cineasten im Kinosaal der naTo Platz nehmen, wo sie umgehend der nächste Schauer erwartet. Man kann die Betreiber des Kommunalen Kinos Leipzig kaum genug dafür loben, dem großen Unbekannten des amerikanischen Nachkriegsfilms in diesen Tagen ein Forum zu bieten. John Cassavetes besetzte im Laufe seiner eigentlich viel zu kurzen Filmkarriere ein ums andere Mal Themen, die den etablierten Filmemachern Hollywoods zu heikel erschienen, er hob Rassismus und Außenseitertum auf die große Leinwand, kombiniert mit einem Realismus nordamerikanischer Art, der den Arbeiter feiert und seinen Aufstieg in die „besseren“ gesellschaftlichen Kreise melancholisch dokumentiert.

„A Woman under the Influence“ ist ein Meilenstein des modernen amerikanischen Films, ein Melodram und eine gewaltige emotionale Anstrengung für Darsteller wie Betrachter. Cassavetes erzählt in körnigen Bildern, die durchaus das heute geläufige Prädikat „Dogma“ verdienen würden, die Geschichte der Familie Longhetti. Nick Longhetti (Peter Falk) ist ein Arbeiter bei der Stadtverwaltung, ein kerniger Mann, dem seine drei Kinder und seine Frau Mabel über alles gehen. Mabel (Gena Rowlands) jedoch, obschon in ihrer Liebe zu Mann und Kindern nicht minder engagiert, stellt die familiären Beziehungen permanent auf eine gefährliche Probe: Offenbar wird sie ihrer psychischen Probleme nicht mehr Herr, schwankt fortwährend zwischen manischer Depression, Angstzuständen und Wahnvorstellungen, unter denen nicht zuletzt die verstörten Kinder leiden. Nach einer spontan inszenierten Party für die Kinder kommt es zum Eklat. Nick und seine Mutter, die vortrefflich den Hausdrachen und die eifersüchtige Schwiegermutter gibt, finden die Kinder nackt und verängstigt im Haus vor, derweil Mabel, offensichtlich im Wahn, über Tische und Stühle geht. Der hinzugerufene Doktor Zepp kann nicht anders, als die verwirrte Frau in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Die Fassade des geordneten „suburbian life“ bekommt erste Risse, die Nick im Alkohol ertränkt. Den besorgten Arbeitskollegen verschließt sich der Mann, sein italienischer Stolz läßt es nicht zu, den Wahnsinn seiner Frau zu akzeptieren. Mit den Kindern fährt er ans Meer, die zunehmende Entfremdung zwischen ihnen und dem Vater gipfelt im Alkoholrausch der Kleinen, die der Vater mittels mehrerer Dosen Bier ruhigzustellen versucht. Auch der pater familias scheint emotionale Defizite mit sich umherzutragen, doch gehorcht er, im Gegensatz zu seiner Gattin, den Konventionen der Gesellschaft.

Die schließliche Entlassung Mabels aus der Psychiatrie (der Subtext bemerkt lakonisch „ein halbes Jahr später“) gerät zum erneuten Angriff auf die nervliche Belastbarkeit des Publikums. Zuhause angekommen scheint Mabel im engsten Familienkreis schon nach wenigen Minuten in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, was wiederum bei Nick einen Tobsuchtsanfall hervorruft, in dessen Verlauf er zum zweiten Mal die Hand gegen seine Frau erhebt. Doch schließt Cassavetes‘ Film unerwartet versöhnlich. In der letzten Szene sieht man Nick und Mabel, wie sie in aller Ruhe die Kinder zu Bett bringen, um anschließend ihr eigenes Nachtlager herzurichten. Beide scheinen gefaßt, nach mehr als zwei Stunden permanenter Anspannung scheint der Druck von ihrem Spiel abgefallen zu sein. Sie lächeln und ziehen die Vorhänge zu.

John Cassavetes drehte mit „A Woman under the Influence“ einen Film als Tabubruch. Zum ersten Mal wurde das Thema psychischer Erkrankungen derart explizit in einem großen Kinofilm behandelt. Die amerikanische Gesellschaft mochte sich mit dem geordneten Vorstadtleben der Longhettis identifizieren, nicht aber mit den Ausbrüchen Mabels, die nachmittags zur Flasche greift, wildfremde Männer zum Tanz in ihrem Garten auffordert und Schulfreunde ihrer Kinder zur Darstellung des sterbenden Schwans nötigt. Trotzdem handelt der Film auf einer zweiten Ebene von den Grundtugenden des „American Way of Life“, denn dem rohen Nick Longhetti fällt es im Traum nicht ein, seine Frau zu verlassen, selbst als es ihm Freunde und Verwandte nachdrücklich ans Herz legen. Seine Haltung ist nichts anderes als ein zutiefst konservatives Verständnis von Familie und Gemeinschaft, das sich zum Schluß des Films auch durchzusetzen scheint. Nur oberflächlich betrachtet ist „A Woman under the Influence“ ein Film über eine Frau, die sich bewußt oder pathologisch den bürgerlichen Normen widersetzt. Die vorherrschende Moral aber entspringt der grundsoliden Überzeugung, daß es gilt, die Werte der Familie zu schützen.

Das intensive, bisweilen als „manisch“ zu bezeichnende Spiel Peter Falks (für den Cassavetes in der Folge auch in einigen „Columbo“-Folgen für Buch und Regie verantwortlich zeichnete) und Gena Rowlands‘ (Cassavetes‘ Ehefrau) trägt zur Aufgewühltheit des Zuschauers einen gewaltigen Teil bei. Rowlands lacht und weint, zittert und schreit, und stets enthalten ihre Bewegungen, ihr Augenaufschlag, eine Spur des Wahnsinns, eine Nuance der Zerrüttung, die so gekonnt in Szene gesetzt werden, daß ihr Publikum regelrecht physisch mitleidet. Ob es Unterdrückung ist oder Krankheit, die ihre Gesichtszüge entgleisen lassen, sei dahingestellt. Ihr Spiel wirkt nicht moralisierend, sondern nahezu unverstellt und beängstigend realistisch. In gleichem Maße nimmt man Peter Falk den hart arbeitenden, herzlich-jähzornigen Nick ab, der jeden verbalen Ausfall gegenüber seiner Frau prompt wieder bereut.

Cassavetes‘ Film erlangt in seinen besten Momenten eine Intimität, eine kammerspielartige Atmosphäre, die nicht nur von der großartigen Leistung der beiden Hauptdarsteller profitiert. Der Umstand, daß der Regisseur seinen Film mehrheitlich mit Freunden und Verwandten besetzte, trägt noch verstärkt zur realistischen Darstellung bei, die Spannungen werden greifbar, die Tränen wirken echt. Am Schluß steht die Katharsis in Form einer geretteten Ehe und Familie, deren Schicksal offen bleibt und die vielleicht am nächsten Tag schon auseinanderbrechen könnte. Ein fragiles Glück, mit dem uns Cassavetes in die Nacht entläßt.(Roland Leithäuser)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.