Fernando Meirelles Meisterwerk über ein Elendsviertel Rio de Janeiros

Der Film „City of God“ zeigt das Leben in der „Cidade de Deus“

„Löckchens“ Faszination für Waffen (Bild: Verleih)

Die Stadt Gottes, das ist der Name eines Viertels am Rande Rio de Janeiros. Es ist ein Slum der Schwarzen, die entweder sich selbst oder den Rassismus der Polizei fürchten müssen, es ist ein Ort der Aussichtslosigkeit. Ein Zündstoff, den Paolo Lins in seinem autobiographischen Roman „Cidade de Deus“ verarbeit hat, und den sich zunächst Kátia Lund für ihren Dokumentarfilm zur Grundlage wählte. Auf ihre Hilfe konnte sich auch Regisseur Fernando Meirelles stützen, der seine Erfahrung und Bekanntheit aus Werbefilmen speiste, als er City of God drehte. Ein Konglomerat aus Geschichten brutalster und zugleich liebenswürdiger Kinder und Jugendlicher – ein Paradox, das bis zum Äußersten getrieben den Reiz dieses Films bestimmt.

Die erste Szene reißt uns hinein in die Hetzjagd einer Straßenbande auf ein kleines Huhn. Wir finden uns aber wieder auf der Frontlinie zwischen der Gang hochbewaffneter Kids und einer skrupellosen Polizei. Das ist die Perspektive Buscapés (Alexandre Rodrigues), dem als einziger der Ausstieg gelingt, weil er statt zur Waffe zum Photoapparat langt. Er nimmt uns mit auf die Reise der vielen Geschichten der City of God, Episoden von den 60er bis 80er Jahren. Keine Zweifel jedoch, es könnte heute anders sein, verheißt uns die Logik von Gewalt und Gegengewalt und deren ewiger Nachzucht.

Da sind zum einen die „Wilde Angels“, die Gang von drei Jungs, deren bewaffnete Überfälle einen kleinen Jungen, genannt „Löckchen“, die Faszination des Schießens und der Macht der Waffen zeigen. Wie in einem Spiel darf er die Lust am Töten kennenlernen, womit das Ende der unblutigen Zeit beendet ist. Später sehen wir ihn als Jugendlichen wieder, der nun „Locke“ heißt, nicht weil er reifer geworden ist, sondern weil er sich zum gefährlichsten Anführer einer Gang herauftötete, welche die halbe Stadt Gottes unter Gewalt und Drogengeschäften regiert. Das jahrelange Töten hinterließ die Spuren eines verstellten Gesichtsausdrucks.

Überhaupt wird viel geschossen und getötet, zwischen den Gangs wie selbst unter Freunden. Das Töten wird zur Nebensächlichkeit im Machterhalt und wirkt in seiner Leichtigkeit beinahe erschreckend faszinierend. So nah ist die Kamera von César Charlone unter den Figuren und mit ihnen verwoben. Bis zu den Momenten, wo die Stopmotion uns herausnimmt aus dem Miteinander der Jungs und uns die ganze Brutalität der Gewalt und ihrer Zwänge vor Augen führt. So zum Beispiel, wenn wir den kleinen „Löckchen“ beim Massaker im Hurenhaus erleben, wenn ein Verdächtiger wie Freiwild von der Polizei gejagt und hingerichtet wird oder wenn ein vielleicht 13-Jähriger von Größeren gezwungen wird, seinen ersten Schuss auf einen Menschen, einen noch jüngeren, abzufeuern.“?Ich schniefe und rauche, hab geklaut und einen Menschen erschossen – also bin ich ein Mann“, wird er später stolz von sich sagen.

Meirelles legt insgesamt großen Wert auf das verbundene Miterleben unter den Akteuren. Sympathisch bleiben selbst die abgekühlten Sprüche, weil auch den Sensibilitäten reichlich Platz eingeräumt wird, der Sehnsucht nach Geborgenheit mit einer Frau und den bürgerlichen Träumen von einem Haus, nach einer einfachen, glücklichen Zukunft. Auch die Musik trägt einen gewichtigen Teil bei, dem Rausch der Erzählungen mit 110 Laiendarstellern stets zu folgen, sie versprüht das Flair einer riesigen Fiesta.

Fernando Meirelles ist mit diesem Riesenaufgebot an authentischen Darstellern, intelligent verschachtelter Montage aus Rückblenden und vielen digitalen Effekten ein epischer Actionfilm gelungen, der die Kritik einheitlich und zu Recht begeistert. Vergleiche wie von amerikanischen Kritikern mit Pulp Fiction führen aber in die Irre, oder genauer ins Vergessen über die Realität der Probleme. Noch im letzten Jahr wurden in der Cidade de Deus 68 Jugendliche umgebracht. Der Film machte aus ihr ein Symbol der sozialen Missstände, und konnte vielleicht erstmals eine Kehrtwende, auch politisch, einläuten. City of God stilisiert nur scheinbar einen Kult gesetzesloser Gewalt und des Drogenkonsums, darin ist er rasant und berauschend, dennoch bleibt er unmissverständlich authentisch.

City of God / Cidade de Deus

Brasilien/USA/Frankreich 2002
Regie: Fernando Meirelles,
Buch: Bráulio Mantovani (nach einem Roman von Paulo Lins)

Passage Kinos, 15. Mai 2003


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