Welt, Weib, Liebe und Tod

Wer da war, wird es nicht vergessen: Die Werke von Arnold Schönberg und Frank Martin mit dem MDR Sinfonieorchester unter Fabio Luisi im Gewandhaus

Das sah nach echtem brain food aus: Professor Luisi stellt vor, was zwei Komponisten des 20. Jahrhunderts aus dichterischen Vorlagen gemacht haben. Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“; nach einem Gedicht von Richard Dehmel, sowie Frank Martins Vertonung des notorischen Rilke-Werks „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Ein „literarisches Konzert“ also; „anspruchsvoll“ wäre schwer untertrieben gewesen und das Programm hatte viele offensichtlich davon abgehalten, ins Gewandhaus zu strömen. Gähnende Leere im Saal. Ist es der Schlüsselreiz „Schönberg?“ Mal sehen… Halbvolles Haus also, immerhin kann man sich zum Kumpelpreis auf die besten Plätze setzen.

In der ebenso freud- wie nutzlosen Einführung erhielt der Besucher vorab die gern versäumte Gelegenheit, sekundenweise einzelne Akkorde anzuhören, sowie die Aufforderung, sich auf die Musik „einzulassen“. Gut, dass die Texte für sich sprechen konnten. Wer jedenfalls kein Programmheft ergattern konnte, der war zwar nicht direkt aufgeschmissen, hätte aber noch viel mehr vom Konzert haben können.

Richard Dehmels Lyrik ist einem Tanz in den Mai mit viel Waldmeisterbowle sehr ähnlich. Es glänzt, gleißt und schimmert, sprießt und tropft, die Sinnenfreude feiert fröhliche Urständ. Das pralle Leben wird gefeiert und es hagelt Sinnsprüche, die allesamt so verschwommen sind, wie sie nett klingen. Solange man sich damit beschäftigt, schmeckt es himmlisch. Nach ein paar Gläschen, respektive: Verslein fühlt man sich, wie es sich mit steigender Promillezahl nun einmal verhält, eins mit dem Weltall („Oh sie, wie klar das Weltall schimmert! Es ist ein Glanz um alles her“). Der Schädel danach ist vorprogrammiert, alles klebt und man sagt sich „Nie wieder!“.

Dazu war Dehmel für den einen oder anderen mittelschweren Skandal gut; Parapornographie fürs wilhelminische Bürgerhaus. „Hohohoho“, mag da mancher wohlhabende Drogist gedacht und hochroten Kopfes den Band wieder ins Regal gestellt haben. So funktioniert auch „Verklärte Nacht“ aus „Weib und Welt“, den beiden Hauptzutaten im Café Dehmel: Frau und Mann 1 treffen sich in Mondnacht; sie hat sich aus purer Lust von Mann 2 schwängern lassen, was Mann 1 nicht nur großmütig verzeiht, sondern als Weltumarmungsakt auch ausdrücklich begrüßt, da auf mysteriöse Art und Weise der „Glanz“ irgendwie in ihn geflossen sei (…) und nicht nur einfach ein Kind gemacht, sondern auch er selbst infolgedessen (?!) „zum Kind gemacht“ worden ist (??!). Nacht und Mond erzittern vor soviel Größe, „er fasst sie um die starken Hüften/ihr Atem küsst sich in den Lüften/Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht“. Nun gut…

Eines jedoch konnte dieser Dehmel: Starke Bilder enthält seine Sprache, die zudem hochmusikalisch ist. Das mag auch eine Erklärung für die zahlreichen Dehmel-Vertonungen der Jahrhundertwende sein. Schönbergs Versuch von 1899, diese Verse musikalisch zu spiegeln, resultierte in einem Streichsextett, dessen extreme harmonische und kontrapunktische Dichte in einem eigentümlichen Verhältnis zur kammermusikalischen Besetzung steht. Bei aller Kunstfertigkeit ist es fast schon zu konzentriert, ein wenig wie der Verzehr eines Suppenwürfels. Doch 1917 verfertigte Schönberg eine Fassung für Streichorchester, die er fast dreißig Jahre später revidierte, durchaus mit Blick auf ein größeres Publikum. Und da tut sich der ganze Zauber dieses Meisterwerks auf, mit seinen dichtgedrängten Emotionen. Sie ist zu hören, die Nervenmusik der Protagonisten im Gedicht, Niedergeschlagenheit, Triumph, Aufbegehren, Ruhe und die abschließende Verklärung; jeder Wimpernschlag scheint Musik geworden zu sein. Und so gestaltet auch Luisi die „Verklärte Nacht“ mit makellosem Klang als halbstündigen Spannungsbogen, der niemals bricht.““

Was nach der Pause folgte, dürfte bei so manchem in die Kategorie „Davon werde ich noch meinen Enkeln erzählen“ gefallen sein. So richtig oft bekommt man Werke von Frank Martin nicht zu hören. Manchmal versuchen sich Chöre an der doppelchörigen Messe, an „Golgotha“ und „In Terra Pax“, und jüngst gab es das Cembalokonzert in Leipzig. Aber wer spielt die herrlich virtuosen „Préludes?“ Wo ist die Performancegruppe, die die Flamencoadaptionen des Spätwerks aufführt? Dabei war Martin kein Vertreter einer „zweiten Garde“ des 20. Jahrhunderts, sondern ein wahrer Gigant, ein hochindividualistischer Komponist, der sich all den Ismen und Albernheiten des Musikbetriebs entzog und trotzdem immer unerhört Neues schaffen konnte. Wo immer man auch im Werkkatalog nachschlägt: Geniestreiche, Originalität, Schönheit und wohl die erste pfeifbare Zwölftonreihe der Welt („Petite Symphonie Concertante“ für zwei Streichorchester, Klavier, Harfe und Cembalo [!]).

Umso schöner, dass auf dem Programm eine echte Rarität stand: „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ für Kammerorchester und Alt. Rilkes Zwischending aus Lyrik und Novelle, von einer Altistin vorgetragen, über eine Stunde lang konzentrierter Text in fast melodramatischer Gestalt. Wird so etwas langweilig und dröge? Oh nein. Zunächst einmal singt die Altistin Doris Soffel derart deutlich, dass kaum eine Silbe verlorengeht. Dann ist da Martins wunderbar klare Musik, die bei ihrem instrumentalen Reichtum den Text nie zudeckt. Und schließlich natürlich Fabio Luisi, der Meister des ausbalancierten Klangs, der die Elemente zusammenfügt.

Wer sich mehr auf die Musik konzentrieren will, der kann immer noch ins Textblatt schauen. Eng schmiegen sich die Klänge an den Text, ohne dabei nur Begleitung zu sein. Von der „Betrachtung einer Rose“ bis zur Schlusskatastrophe versteht es die Musik, ohne Übertreibung und Firlefanz dem Text zusätzliche Dimensionen zu eröffnen, ihn an bestimmten Stellen zu betonen. Doch ist sie nicht der objektive Kommentar, für den man sie halten könnte. Für wen Rilkes Novelle lediglich eine geheimnisvolle Liebesgeschichte vor Heldentodkulisse ist, dem wird eine radikal andere Interpretation vor Augen geführt. Hoffnungs- und Sinnlosigkeit des leeren Kriegsgetöns werden unmittelbar hörbar, die Entmenschlichung der Handelnden und die episodenhaften Einzelschicksale anonymer Personen werden von Martin gleichsam mit Rotstift unterstrichen. Wenn die namenlose Frau, von Soldaten geschändet, am Baum gefesselt um Hilfe ruft, dann dreht Martin Lautstärke und Klangdichte hoch, dass die Sprache doch noch überdeckt wird und nur noch der nackte Schrei bleibt. Schnell sind die dreiundzwanzig Stücke vorbei. Das waren doch keine neunzig Minuten?!

Ein Unikum, mit kaum etwas anderem vergleichbar – am ehesten noch mit Unikaten, wie Janáceks „Tagebuch eines Verschollenen“. Doch wo sich Janáceks Protagonist Jan für seine Geliebte von seinem ganzen Leben lossagt, und am Schluss die Liebe in ihrer Schönheit schmerzt wie ein Blick in die Sonne, da fällt der Cornet Rilke im Schlachtfeld und es bleibt von allem Kriegswahnsinn und den kleinen Symbolen der Liebe nur eine Depesche für eine trauernde Mutter.

Viele Sekunden Stille bleiben nach den verloschenen Klängen in der Luft, und das nicht, weil keiner weiß, ob das Stück zu Ende ist. Dann erhebt sich frenetischer Applaus, fast zehn Minuten lang; wieder und wieder werden Luisi und Soffel herausgerufen. Viele waren nicht da, aber wer da war, wird es nicht vergessen.

Arnold Schönberg: „Verklärte Nacht“ op. 4
Frank Martin: „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“

MDR Sinfonieorchester
Doris Soffel, Alt
Fabio Luisi, Leitung
Werke von Arnold Schönberg und Frank Martin

17.05.2003 Gewandhaus, Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.