Lesung Hilde Domin (Stefan Rosmer)

19. 5. 2003, Haus des Buches

Lesung Hilde Domin

Das Haus des Buches und die Konrad-Adenauer-Stiftung hatten Hilde Domins Besuch in Chemnitz zur dortigen Einweihung der Synagoge zum Anlass genommen, sie auch zu einer Lesung nach Leipzig einzuladen. Zum ersten Mal besuchte die nun schon 93-jährige Lyrikerin Leipzig, und ihretwegen war der Saal im Haus des Buches mehr als nur gut gefüllt. Offenbar war das Leipziger Publikum höchst gespannt auf eine der bedeutendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts und auf die wohl bedeutendste noch lebende: Hilde Domins Gedichte zählen wohl längst und unbestritten zu dem, was man ? erst wieder diskutiert ? den Kanon der deutschen Literatur nennen könnte. Zu Recht lag eine gespannte und erwartungsvolle Stimmung in der Luft, bevor die Lesung begann. Und bei manch einem lauerte vielleicht auch Skepsis im Hinterkopf: Hatte denn die alte Dame, um die es seit ihrem 90. Geburtstag stiller geworden war, noch etwas zu sagen? War ihr möglicherweise die Aktualität abhanden gekommen, seitdem ihre Lyrik als Schwerpunktthema in Deutsch-Leistungskursen behandelt wird?

Eine Weile durfte das Publikum noch warten. Zwar hatte Hilde Domin schon auf dem Podium Platz genommen, doch bevor sie selbst zu Wort kam, führte die Kölner Literaturwissenschaftlerin Birgit Lermen in Leben und Werk ein. Allein der Lebenslauf, den Birgit Lermen kurz und prägnant ins Gedächtnis rief, war ehrfurchtgebietend und ließ die Spannung steigen. Domins Studium bei Jaspers und Mannheim, ihre Emigration in die Dominikanische Republik ? gerade eine Militärdiktatur war es, die ihrem Mann und ihr Asyl gewährte ? und ihre Rückkehr nach Heidelberg.

Endlich hörte man sie selbst. Ihre lebendige Stimme, den raschen, appellierenden Vortagsstil. Wo zuvor vielleicht Musealität gefürchtet wurde, schuf sich bald konzentrierte Aufmerksamkeit Raum. Ihre Lyrik hat etwas zu sagen, auch wenn es eine höfliche Untertreibung wäre, zu behaupten, dass man der Dichterin ihr hohes Alter nicht anmerken würde. Doch verleiht ihr Alter den Gedichten, die sich oft ganz direkt an den Leser und Zuhörer wenden, im Gegenteil einen noch größeren Nachdruck. Zu Recht trug sie ihre Gedichte jeweils zweimal vor: sie wollen zweimal gehört sein. Der Zuhörer profitiert davon. Oft wurde erst beim zweiten Hören deutlich, was gesagt oder sogar verlangt wurde. Darin liegt ein wesentlicher Zug der Lyrik Domins: Sie ist häufig Aufforderung und Ermahnung, und stets geht es um Aussage und Inhalt, die hinter Klangreiz und Formspiel nicht zurückstehen. Wo es möglich ist, sind Domins Gedichte kurz, mitunter sogar sentenzenhaft.

Hilde Domin las Gedichte aus allen Phasen ihres Schaffens, aus ihrem einzigen Roman Das zweite Paradies und ihren essayistischen Schriften. Ihre eigenen Anmerkungen dazu enthielten meist Erzählungen aus ihrem Leben, was nicht nur unterhaltend und informativ war, sondern die Gedichte oft erhellte und dem Hörer, der ja die Chance zum Nachlesen nicht hat, das eine oder andere klar machen konnte. Handelt es sich doch um Lyrik, die zweifelsohne einen sehr engen Bezug zum Leben der Dichterin hat.

Aber Domins Lyrik ist natürlich nicht nur der Anhang einer spannenden Biographie, nein sie steht auch für sich selbst und auf eigenen Beinen. Als Gegenstand eigenen Werts und als große Kunst gelang es ihr, den Zuhörer unmittelbar zu treffen. Die oft spröden, surrealistischen Bilder, gewinnen blitzartig einen unmittelbaren Sinn, eine fast blendende Klarheit und Deutlichkeit, und doch ist in diesen Momenten die so knappe Sprache plötzlich unglaublich klangvoll und sinnlich. Als letztes Gedicht las sie Abel steh auf, das mit dem großartigen Schlussbild des Feuers Abels endet: Es steht einem klar vor den Augen und zugleich schlägt die Sprache einen zart hymnischen Ton an. Man versteht dann, was es heißen könnte, wenn auf der Erde und am Schwanz der Raketen das Feuer Abels brennen würde.

Hilde Domin schien in ihrer Lyrik alles gesagt zu haben, denn nach dem langen Schlussapplaus konnte und wollte niemand aus dem Publikum eine Frage beantwortet haben, wozu die Dichterin gern noch bereit gewesen wäre. Um so größer der Andrang dafür, als Domin danach noch signierte. Man wünscht sich häufiger außergewöhnliche Erlebnisse wie dieses und ahnt dabei wohl gleichzeitig, dass sie Seltenheiten bleiben müssen, wenn das Bewegende nicht zum Alltagsgeschäft werden soll. Und deswegen braucht in dieser Hinsicht auch nur bedauert werden, dass Hilde Domin nicht schon früher einmal in Leipzig gewesen ist.

(Stefan Rosmer)

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