Die Brisanz des Maulbeerbaums

Espionage and Aliens: Ulrike Gärtner spioniert Pflanzen aus

Knusper knusper. Ein gerüttelt Dutzend fingerdicker Seidenraupen unterschiedlicher Spezies haben es sich auf den bereitgestellten Maulbeerbaumblättern bequem gemacht und walten ihres Amtes: Fressen, was die Kauwerkzeuge hergeben, Fäden spinnen und Kokons bauen. Das ist faszinierend anzusehen – und wo gibt es schon Seidenraupen und Maulbeerbäume zu bewundern, zudem im Museum, also in den berühmten Kunstkontext gekarrt? Farbkopien vergrößerter Fotos zieren die Wände: eine seidengewandete Dame, mutmaßlich die Künstlerin, im Gespräch mit Kleingärtnern und anderem Volk (ist „Gärtner“ eigentlich ein Künstlername?). Ein alter Mann erinnert sich an die Seidenraupenzucht nach dem zweiten Weltkrieg (interessant und lesenswert). Filme zeigen die grüngemusterten Raupen bei ihrer Lieblingsbeschäftigung.

Die Spione und die Aliens? Klingt gut, ist aber Mogelpackung. Ulrike Gärtner hat Standorte von Maulbeerbäumen in Sachsen bestimmt, „Pflanzen ausspionieren“ heißt das bei ihr. Irgendwie geht es auch um nationale Grenzen, ihren Konstruktcharakter und ihre Überschreitung. Epitheta wie „brisant“ und „illegal“ helfen allerdings nicht, das, was sich als „Pilotprojekt“ im Studio der Galerie für zeitgenössische Kunst präsentiert, zu einer wirklich grenzüberschreitend spannenden Erfahrung zu machen. Oder soll es, auf gut kinderpädagogisch, „zum Nachdenken anregen“?

Gärtner hat eine wohlfeile Analogie aus dem Eindringen „nicht erlaubter“ Pflanzen und der Infiltration durch Spione gestrickt. Einfuhrverbote für bestimmte Pflanzen und Spionageabwehr. Klingt ja ähnlich. Das mag frisch und neu klingen, weitere Begründungen für diesen Konnex finden sich zumindest in der „Pilotpräsentation“ nicht. Was soll damit verdeutlicht werden? Dass es unter gewissen Umständen sinnvoll sein kann, ein Ökosystem nach Möglichkeit vor Überwucherung zu schützen? Das es womöglich rassistisch und verbohrt ist, dem Giersch im Garten die Stirn zu bieten? Sind Seidenraupen Spione? Immerhin kleine Helfer, denn woraus stellt man Fallschirme her? Aus Seide! Dämmert’s? Alles frisch aufs Blatt gebrainstormed (braingestormt?). Die Präsentation selbst mutet hingepfuscht an. Wer auf kriminelle Machenschaften unidentifizierter Pflanzenheere, heimliche Unterwanderungen durch Löwenzahn und Bärenklau neugierig ist, möge seine Erwartungen zurücknehmen. Und so bleibt, die wunderschönen und unermüdlichen Räupchen zu bewundern (Achtung Tierfreunde: nicht im Leipziger Zoo!!).

Und was die Vergegenwärtigung der „scheinbar grenzenlose Kraft von Vegetation“ (Presseinfo) angeht, rät Rez. einen ausgedehnten Maispaziergang im Rosental an. Selber spionieren gehen! Was jetzt alles wächst, ist atemberaubend. Bärlauch und Waldmeister duften, und dazwischen, fernab der notorischen ausgetretenen Wege, kann man ein echtes Alien bewundern: den Aronstab (arum maculatum). Er fängt Fliegen auf spektakuläre Art und Weise, ist eine echte Rarität, auf der Roten Liste und macht tot, wenn man ihn isst! Brisant und spannend!

Espionage & Aliens
Pilotpräsentation von Ulrike Gärtner
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig
Mai 2003

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