Leipziger Bachfest 2003: Bachs Johannes-Passion mit den Thomanern
Fast schien es so, als habe Dirigent Gotthold Schwarz die gesamte Kraft des Ensembles bis zum Schlusschoral „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ aufgespart, allzu verhalten wirkte oft der Klang von Thomanerchor und Leipziger Barockorchester bei der diesjährigen Johannes-Passion im Rahmen des Bachfestes. Transparenz, barockes Klangideal und Phrasierung, all das überzeugt, doch etwas mehr Klangfülle hätte der Aufführung nicht geschadet, auch wenn es sich um eine Passion handelt.
Die Fassung der Johannes-Passion von 1724, die am Samstag in der Thomaskirche zu hören war, lässt sich aufgrund der ungünstigen Quellenüberlieferung nicht bis ins letzte Detail rekonstruieren. Die Besetzung war aller Wahrscheinlichkeit nach kleiner als in den späteren Versionen, so verzichtete Gotthold Schwarz auf die Partien der Querflöten. Auch die opulente Besetzung des Generalbasses mit Kontrafagott ist nur für die letzte Fassung von 1749 bezeugt. Am deutlichsten werden die Unterschiede bei den Choralsätzen in der ersten Werkhälfte, die schlichter sind als die Sätze der späteren Versionen.
Große Textverständlichkeit bei Chor und Solisten, exakte Einsätze in den teilweise schwierigen Wechseln zwischen Chor/Volk und Solisten entfalten Dynamik und zeigen den gestischen, stellenweise opernhaften Duktus des Werkes. Hier wird Dramatik erzeugt, hier werfen sich der Evangelist, Jesus und Pilatus die Bälle zu.
Die Solisten überzeugen, einzig Tenor Seung-Hee Park, der trotz Erkrankung sich bereit erklärt hat, die Tenorarien zu singen, fällt gegenüber seinem als Evangelist eingesprungenen Kollegen Christoph Genz etwas ab. Jeder Ton sitzt, doch der Klang blüht nicht richtig auf. Vor allem in der tieferen Lage trägt die Stimme zu wenig. Christoph Genz hingegen, ehemaliger Thomaner, meistert den Part des Evangelisten bravourös mit erzählerischer Dramatik.
Ruth Holtons Sopran klingt glockenklar und intonationssicher. Die Sängerin umschifft gekonnt alle Klippen der schwierigen Arie „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren“ und lässt in höchster Höhe schwebende Pianotöne anschwellen. Die Altpartie hingegen, ganz in barockisierender Manier mit einem Altus besetzt, hätte etwas mehr stimmliche Wärme und Ausdruck vertragen können. Warum die Altpartie nicht einmal wieder mit einer Frau besetzen? Gerade der zentralen Arie „Es ist vollbracht“ konnte Altus Martin Wölfel nicht die nötige Wärme und Fülle in der Tiefe verleihen.
Doch die beiden Bässe, Christoph Hülsmann als Jesus und Peter Kooij als Pilatus, sind ihren Rollen gewachsen und Peter Kooij zeigt in den Bassarien Kraft und Klarheit zugleich. Etwas von dieser klanglichen Wucht hätte auch dem Chor- und Orchesterklang nicht geschadet. Das Leipziger Barockorchester hat einen ausgewogenen Klang entwickelt, nur manchmal fehlt etwas der Mut, aus der Fülle zu schöpfen. Das gleiche gilt für den Thomanerchor. Doch dass Klangfülle möglich ist, ohne dabei auf Durchsichtigkeit zu verzichten, haben sie an einigen Stellen, wie dem Schlusschoral, bewiesen.
Johann Sebastian Bach
Johannes-Passion (Fassung 1724)
Thomaskirche, Samstag, 31. Mai 2003
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