Philippe Herreweghe führt mit Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent Bachs h-Moll Messe in der Thomaskirche auf
Bachs Musik, insbesondere sein letztes Meisterwerk, ist so großartig, dass es unterschiedliche Interpretationsansätze nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert. Dieses Jahr gebührte dem einzigartigen Philippe Herreweghe und seinem berühmten Ensemble Collegium Vocale Gent die Ehre, das zahlreich besuchte Bachfest mit der h-Moll Messe in der ausverkauften Thomaskirche zu einem glanzvollen Abschluss zu bringen.
Herreweghes „historische Aufführungspraxis“ zeichnet sich neben der Bemühung um eine authentische Klanginterpretation besonders durch ein sehr natürlich gehaltenes Timbre aus. Mit Hilfe präziser rhythmischer Artikulation und minimaler Gestik führt er das Ensemble zu einem homogenen, transparenten Klang, sodass vor allem im Melodischen eine unverfälscht wirkende Natürlichkeit entsteht. Gerade dieser fast volksliedhafte Charakter seiner Melodieführungen bewirkt einhergehend mit dem artifiziellen Spiel und Gesang seines Ensembles Herreweghes außergewöhnliche Bachinterpretationen.
Die besondere Stärke des belgischen Dirigenten ist die Chorarbeit, die weltweit ihresgleichen sucht. In Anlehnung an die Überlieferung führte Herreweghe die h-Moll Messe ähnlich wie Bach mit einem 22-köpfigen Chor auf, der es mit einem ausschwingend kraftvoll-dramatischen Gesang vermochte, die Thomaskirche bereits mit Beginn des furiosen Kyrie eleison in einen gotischen Dom zu verwandeln.
Demgegenüber fehlte es bisweilen dem Orchester besonders zu Anfang an genügend ausgewogenem Klang. Es mag am kontemplativ gewählten Tempo oder auch an der erdrückenden Hitze in der Thomaskirche gelegen haben, dass die Streicher um Konzertmeisterin Sirkka-Liisa Kaakinen teilweise Mühen hatten, den für das Collegium Vocale Gent – Orchester charakteristischen virtuos durchsichtigen Spannungsbogen aufrecht zu erhalten (besonders im Laudamus te). Und auch Raphael Vosseler hatte Mühe, sein Hornsolo im Quoniam trotz hoher Musikalität sicher zu artikulieren. Dafür berührte um so mehr das weiche dezente Spiel der Holzbläser, allen voran Patrick Beuckel, der auf seiner Traversflöte himmelsgleiche Töne hervorzauberte.
Selbst das Sängerquartett von Letizia Scherrer, Andreas Scholl, Mark Padmore und Sebastian Noack, obschon international renommiert, blühte trotz technisch-brillianter Präzision nicht zu vollkommener Klangfülle auf. Erst als Andreas Scholl sich gegen Ende erhob und das Agnus Dei sang, war es, als hätte die Messe einzig auf diesen Moment zu gelebt. Seine überirdisch schwerelose Stimmführung, seine weit ausgreifenden, düster tönenden Bögen und zart schwingenden Pianoschattierungen ließen einem den Atem stocken.
Bis heute wirkt Bachs h-Moll Messe in ihrer musikalischen Vollkommenheit als ein zeitloses Kunstwerk. Ihre Aufführungsgeschichte besitzt in Leipzig bereits eine lange Tradition und doch bringt jede Darbietung neue Impulse. Auf diese Weise reiht sich Philippe Herreweghes Interpretation bestens unter das diesjährige Motto Bach in Leipzig – zwischen Tradition und Neubeginn ein. So wie Bach auf alte Muster der katholischen Messe zurückgriff und sogleich etwas völlig Neues schuf, beruft sich der belgische Dirigent auf eine traditionell historische Aufführungspraxis, um diese mit seiner ihm ganz eigenen Note von glatter, fast temperamentloser Natürlichkeit auszustatten.
Abschlusskonzert Bachfest
Johann Sebastian Bach, Messe in h-Moll, BWV 232
Philippe Herreweghe mit Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent
Letizia Scherrer, Sopran
Andreas Scholl, Sopran, Altus
Mark Padmore, Tenor
Sebastian Noack, Bass
1. Juni 2003, Thomaskirche
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