Schritte im Schnee und in die Maßlosigkeit

Komponisten als Dirigenten: Mit Hans Zender im Gewandhaus

Ein berühmtes Klavierwerk für Orchester zu bearbeiten, ist eine ebenso risikoreiche wie spannende Geschichte. Nachdem Modest Mussorgskijs „Bilder einer Ausstellung“ die Hände des orchestralen Hexenmeisters Maurice Ravel wieder verlassen hatten, mochte kaum jemand noch das Original in seiner spröden Schönheit hören, bis einige mustergültige Aufnahmen das Klavierwerk wieder ins rechte Licht rückten.

Es mag verlockend sein, sich Debussys „Préludes“ mit ihren harmonischen Raffinessen und vagen synästhetischen Visionen als Orchesterstück vorzustellen – ließe sich nicht vielleicht eine zumindest gleichermaßen interessante Variante herstellen? Hans Zender hat sich fünf Sätze aus dem vielleicht wichtigsten Klavierwerk des 20. Jahrhunderts vorgenommen und ist damit gescheitert. Zender ist zugute zu halten, dass er sich einer der schwierigsten Instrumentationsaufgaben überhaupt gestellt hat und zweifellos gelingen ihm ab und zu Passagen von großer Schönheit. Doch hier wird einem Werk von höchster Vollendung etwas hinzugefügt, das dieses feine Gewebe stört. Ist es doch gerade die Kunst Debussys, dem „monochromen“ Klavier ein unendlich reiches Klangspektrum abzugewinnen und das oft mit Mitteln der klugen Selbstbeschränkung.

Mussten es denn ausgerechnet die „Préludes“ sein, deren Präsentationsform in zwei Heften zu zwölf Werken allein schon mit dem Zeigefinger auf eine große Gattungstradition verweist? Und die nicht weniger sein wollen als ein Kompendium dessen, was auf dem Klavier bis dato Ungehörtes möglich werden kann und das mit höchster Klarheit, ohne dass jemand auf die Bezeichnung „Virtuosenstück“ käme? Und die dann – herrje – diesen gewaltigen Anspruch auch noch einlösen? Debussy war einer der wenigen Komponisten, die wirklich für Klavier schreiben konnten und zudem auch noch das Orchester meisterhaft beherrschten. So fragt man sich unwillkürlich: Wie hätte Debussy wohl seine Klavierwerke instrumentiert? Und denkt sofort: Es hat wohl seine Gründe, warum er es einfach gelassen hat. Ravel, der einige seiner Klavierstücke instrumentierte, verfiel z.B. nie dem Fehler, die Klaviernoten direkt aufs Orchester zu übertragen, sondern dachte in Klangmodi und Wirkungen, mit dem Ergebnis, dass man weniger aus dem Notenbild, als aus dem Klang das Stück erkennt. Mithin, seine „Instrumentierung“ ist ein neues Werk im Paralleluniversum des Orchesters. Diese Genies…

Auch wenn man Zenders Versuch ohne Vorurteil zuhört, wird flugs deutlich, dass seine Instrumentierung eine doch arg hausbackene Angelegenheit ist. An vielen Stellen klingt der Orchestersatz irgendwie nach Debussy, dann wieder nach dem Instrumentationshandbuch eines Provinzkapellmeisters: das lustige, groteske Thema des General Lavine? Na klar, Kontrafagott, immer wieder, mit dem Understatement einer Disney-Musikspur. Zahlreiche überstürzte Registerwechsel und hektische Betriebsamkeit an der Schlagwerkbatterie – werden die zahlreichen Beckenschläge in den „Voiles“ von einem tieferen Gedanken geleitet oder sind sie nur das befremdlich überflüssige Sprühsahnehäubchen auf dem ansonsten solide bereiteten Filetsteak? Damit wirken seine Debussy-Arrangements ein wenig wie jene seltsamen handgemachten Einfärbungen aus der Frühzeit des Farbfilms – alles stimmt zwar ungefähr, bleibt aber entweder zu grob, zu dick aufgetragen und zum Erzielen psychedelischer Effekte wieder zu brav auf Nachahmung bedacht.

Einmal jedoch trifft Zender einen Ton, der das Verhältnis zwischen Originalwerk und Bearbeitung spannend werden lässt. Wenn zum Schluss von „Des pas sur la neige“, den „Schritten im Schnee“, ein ganz zartes, dutzendfach aufgefächertes Flageolett des Streichorchesters erklingt, ist es, als wichen alle Farben aus dem Raum und die Raumtemperatur strebt dem Gefrierpunkt entgegen. Das überzeugt und weist den Weg zur Debussy-Orchestrierung: Selbst immer wieder neu sein, ohne dass irgendwer es sofort merkt…

Großartig dagegen Zenders Einstudierung des Messiaen’schen Frühwerks „L’ascension“. Schön, dass man Olivier Messiaens skurrile theologische Programme einfach ausklammern und sich daran freuen kann, wie er komponiert. An den leuchtenden Klangfarben, am Mut, einen ganzen Satz nur von den Bläsern spielen zu lassen, an den rhythmischen Vertracktheiten und den zeitlichen und dynamischen Gigantismen. Um sich am Ende bei dem Gedanken zu erwischen: Ja, so und nicht anders muss es klingen, wenn der Heiland gen Himmel schwebt. Zender kennt seinen Messiaen bis in die Details und bringt ihn vollendet zum Klingen.

In der zweiten Hälfte stellt er ein eigenes Werk vor: „Shir Hashirim. Jishaqeni“, auf den Text des Hohelieds Salomos. Richtig: Das Kapitel, das im Religionsunterricht nicht vorkommt und auch ziemlich wenige Konfirmationslosungen hergibt. Das „Lied der Lieder“, Klassiker orientalischer Dichtkunst, in dem plötzlich alle Mühlsteine, Menschenopfer, abgehauenen Hände und was dergleichen in der Bibel alles für Action sorgt, vergessen sind zugunsten von Liebe, Liebe und nochmals Liebe. Dazu fährt Zender alles mögliche auf: Riesenorchester, Chor, Solisten (Sopran, Tenor, Flöte, Posaune), Live-Elektronik in Form eines Synthesizers und einen Ringmodulator – einer Vorrichtung, mit der man Klangsignale mit beliebigen Sinuswellen multiplizieren und per Lautsprecher wieder unters Volk bringen kann. Das ganze ist eine reichlich bombastische Angelegenheit, aber das Hohelied ist nunmal nichts für den Puritaner.

Die Solisten, Julie Moffat und Martyn Hill, sind fantastisch, Zender leitet (natürlich) mit Hingabe. Ohne Vorlage und Debussys dräuenden Schatten hinter sich ist er doch ein bemerkenswerter Orchesterkomponist, der unüberhörbar auf die Sankt-Olivier-Schule gegangen ist. Besonders in den Fächern „Maßlosigkeit“, „Orgiastik“ und „Religiöse Ekstase“ hat er stets gut aufgepasst, wenn auch mit einigen Exkursionen in die Aufdringlichkeit. Am Schluss, konstrastiv zum Werk, nur maßvoller Applaus. Doch zuviel Vielfalt, zuviel des Guten? Oder einfach zuwenig Publikum? Das nämlich war vorsichtshalber eher sporadisch angetreten.

Komponisten als Dirigenten

MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor

Julie Moffat, Sopran
Martyn Hill, Tenor
Roswitha Staege, Flöte
Uwe Diercksen, Posaune
Christoph Grund, Keyboard

Hans Zender, DirigentClaude Debussy: Cinque Préludes (Bearbeitung von Hans Zender)
Olivier Messiaen: L’Ascension – Quatre méditations symphoniques
Hans Zender: Shir Hashirim (1. Teil)

17.06.2003 Gewandhaus, Großer Saal

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