Fantasie statt Bonbonsüße

„Chihiros Reise ins Zauberland“ – ein magischer japanischer Zeichentrickfilm von Hayao Miyazaki

Chihiro und das mysteriöse Monster Ohngesicht (Bild: Universum Film)

Spätestens seit der Verleihung des Goldenen Bären 2002, der zugleich ein Zeichen setzte für eine Neuorientierung der Berlinale, schien Chihiros Reise ins Zauberland ein unaufhaltsamer Aufstieg beschert. In Japan brach er mit über 21 Millionen Zuschauern alle Besucherrekorde und wurde letztlich dieses Jahr mit dem Oscar als bester Animationsfilm gewürdigt. Nun schmückt der Film sich mit Lobeshymnen wie „Feuerwerk der Fantasie“ (FAZ) und ließ sich ganze zwei Jahre Zeit, um eine kassenfüllende synchronisierte Fassung in die deutschen Kinos zu bringen, für die u.a. Nina Hagen als böse Hexe (Yubaba und Zeniba) fungierte. Der Reiz der befremdlichen Originalsprache geht damit leider verloren, tut dem Zauber dieses wahrhaftig zauberhaften Films aber keinen Abbruch. Doch welches Rezept steckt hinter dem Erfolg, auf das selbst die Disney-Macher mit Neid schauen?

Gleichzeitig stehen die Aufführungen im Leipziger CAPITOL mittlerweile immer auch unter einem anderen Stern als die der großen Stars und des Glamours. Das Kino wird im Oktober seine Tore schließen, dann soll ein Modehaus den historischen Petershof beziehen. Damit geht ebenso ein Stück Stadtgeschichte zu Ende, denn das einstige Flaggschiff der Leipziger Lichtspielhäuser durchlebte seit seiner Errichtung im Jahr 1929 nicht nur die Tiefen deutscher Geschichte, sondern ist auch Ursprungsort des heute international renommierten Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das sich in diesem Herbst zum 46. Mal jährt. So wird Chihiros Reise ins Zauberland auch eine nostalgische Reise durch das CAPITOL mit seinen vier Sälen, von denen der legendäre große mit über 700 Plätzen seit einem knappen Dreivierteljahrhundert beinahe unverändert blieb. Diesem Zauber vergangener Zeiten wird ausgerechnet ein Comic gerecht, denn scheint dieser noch einmal sämtliche Kinogäste über Generationen hinweg zu vereinen.

Der Film erzählt die Geschichte des kleinen Mädchens Chihiro, das mit seinen Eltern in einen Vorort von Tokio ziehen und alle Freunde hinter sich lassen muss. Auf der Fahrt verirrt sich die Familie und durchschreitet von Neugier gepackt einen geheimnisvollen Tunnel, der in einem verlassenen Vergnügungspark endet, sich jedoch bald als Zauberwelt Aburaya entpuppt. Wie eine Oase erscheint ein verlassenes Restaurant, an deren köstlichen Speisen sich die Eltern erlaben und plötzlich zu grunzenden Schweinen werden. Der verängstigten Chihiro erscheint ein mysteriöser Junge namens Haku, der ihr erklärt, dass sie ihre verzauberten Eltern nur retten kann, wenn sie in den Dienst der bösen Hexe Yubaba tritt, der Herrscherin über Aburaya und Herrin über ein riesiges Badehaus, in dem sich erschöpfte Götter und Geister erholen und reinigen. Die schüchterne und schnell panische Chihiro stellt sich dieser abenteuerlichen Herausforderung und entwickelt dabei einen ungeahnten Mut, eine bisher nicht gekannte Willenskraft und Ausdauer, und trifft auf skurril fantastische Kreaturen – und neue Freunde.

Hayao Miyazaki und seine japanische Traumfabrik, das Studio Ghibli, haben sich der Aufgabe verschrieben, den „Anime“ (Genrebezeichnung für japanische Animationsfilme) aus der Nische der Fernseh- und Video-Produktionen für Kinder zu befreien und für ein Massenpublikum interessant zu gestalten. Bereits My Neighbor Totoro (1988) und Prinzessin Mononoke (1997) hatten dabei großen Erfolg. „Ich sollte das eigentlich nicht sagen“, gesteht Michael Eisner, Präsident der Disney Studios, „aber My Neighbor Totoro war lange Zeit der Lieblingsfilm meiner Kinder. Er enthält etwas undefinierbar Magisches. Noch bevor der Film in den USA auf Video erschien, hatte ich zuhause eine japanische Kopie. Die entdeckten meine Kinder eines Tages. Und obwohl sie die Original-Dialoge nicht verstehen konnten, faszinierte sie der Film. Ich weiß gar nicht, wie oft sie ihn angeschaut haben.“ Dabei sind die Kosten für Chihiros Reise ins Zauberland mit 19 Mio. Dollar für japanische Verhältnisse zwar enorm hoch, trotzdem ist das nur ca. ein Fünftel dessen, was eine normale Disney-Produktion kostet.

Auch dieser Film scheint jenes „undefinierbar Magische“ auszustrahlen. Vielleicht liegt es an den zugrunde liegenden Intentionen und Interpretationen Hiyazakis, die sich jedoch keineswegs zwangsläufig aus dem Film selbst erschließen. Er besitzt demnach viele Analogien zur heutigen Gesellschaft (Japans). Chihiros Familie ist keine makellose Illusion, sondern gezeichnet von einem dominanten, egozentrischen Vater, einem wohlhabenden Geschäftsmann, und einer unterwürfigen Mutter mit traditionellen japanischen Werten bezüglich der Strenge und Disziplin bei der Erziehung ihrer Tochter. Die zwei Facetten ein und derselben Person sollen die zwei Hexen verkörpern, Yubaba, die böse, aufbrausende, aggressive und zuweilen sadistische, und ihre Zwillingsschwester Zeniba, die jene Ruhe und Freundlichkeit ausstrahlt, die die Menschen zu Hause annehmen. Ohngesicht, der heimatlose Geist, steht für die Käuflichkeit der Menschen. Er lockt mit Gold und verschlingt letztlich alle, die ihm nahe kommen. Nur weil Chihiro zielstrebig das Schicksal ihrer Eltern verfolgt, begegnet sie seinem Gold mit Interesselosigkeit. Und plötzlich entsteht aus ihnen eine merkwürdige Freundschaft. Generell sind Geister und Götter (des Buddhismus und Schintoismus) in Japan wie im Film omnipräsent, ohne dabei unbedingt dominant zu sein. Sie zeugen von Tradition und Alltag. Des Weiteren sieht Hiyazaki sich im Auftrag, die Kraft und den Eigenwert von Sprache wieder zu entdecken. Dafür steht Chihiros mit Nachdruck formulierter Wunsch an Yubaba nach Arbeit. Die Energie dieser Willensäußerung trägt sie bis an das Ziel all ihrer Wünsche.

Hiyazakis Symbolismen mögen tatsächlich dazu beigetragen haben, den Film aus seinen Ambivalenzen heraus erstrahlen zu lassen. Die Zauberhaftigkeit wirkt gerade durch die offenen Spielräume für die Fantasie. Zwar ist die Hexe Yubaba an Gehässigkeit kaum zu übertreffen, dennoch ist sie zu mürrischen Freundlichkeiten fähig. Sie besitzt zwar eine weitreichende Macht, hat sich im Badehaus aber auch den Gesetzen zu unterwerfen, die das Wohl der Gäste in den Vordergrund stellen. Haku, der hilfsbereite Junge, an den Chihiro ihr Herz verliert, verwandelt sich manchmal in einen gefährlichen Drachen und entpuppt sich als Handlanger Yubabas. Selbst dem hinterhältigen Monster Ohngesicht darf man einmal befehlen, sich anständig zu benehmen, und es hält sich daran. Und die kleine Chihiro ist kein bonbonsüßes Püppchen, das am Ende jenen Mythos vorgaukelt, man müsse nun endlich die große Initiative ergreifen, sondern sie ist ein Mädchen, das lediglich an Reife und Selbstbewusstsein gewonnen haben wird. Bei all dem erschlägt der Film einen nicht durch einen übermäßigen Gebrauch an Spezialeffekten. So ist Chihiros Reise ins Zauberland einerseits ein sehr bescheidener Film, doch zugleich großzügig in seinem Erfindungsreichtum an eigentümlichen Kreaturen, Landschaften und Gesetzmäßigkeiten sowie poetisch durch einen Hauch von Mythologie und zeitweilig ungewöhnlicher Ruhe. Auch Disney darf dazulernen.

Chihiros Reise ins Zauberland

(Sen to Chihiro no Kamikakushi / Spirited Away)
Japan 2001, 125 Min.
Regie + Buch: Hayao Miyazaki
Produzent: Toshio Suzuki, Musik: Joe Hisaishi

Kinostart: 19. Juni 2003 (u.a. im CAPITOL)


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