Romeo und Julia von Prokofjew im Repertoire der Oper Leipzig (Jenny Lagaude)

Romeo und Julia
Ballett in drei Akten von Youri Vámos nach William Shakespeare mit Musik von Sergej Prokofjew (Repertoire)
21. 6. 2003, Opernhaus Leipzig


Wo ist der Balkon?

Romeo und Julia ? für jeden Europäer der Inbegriff kompromißlos gelebter (und gestorbener) Liebe: Für die romantischen Seelen ein bewundertes Ideal reiner Liebes-Leidenschaft, für die realistischeren Naturen eine Geschichte von kindlicher Gefühlsduselei, die nur durch den frühen Tod der Protagonisten veredelt wird. Welcher der beiden Gruppen sich wohl der Choreograph Youri Vámos zuordnen läßt, zeigt die Sprache seiner Inszenierung des Ballettes allerdings nur undeutlich. Dabei gab es seit den 50er Jahren bereits vier verschiedene Ballett-Inszenierungen des Stoffes an der Oper in Leipzig. Youri Vámos setzt gewissermaßen eine ganze Tradition fort. Nun kam der ungarische Choreograph eigens nach Leipzig, um mit dem hiesigen Ballettensemble seine ?Romeo und Julia? Choreographie einzustudieren, die bereits 1997 am Opernhaus in Düsseldorf ihre Uraufführung erlebte.

An Vámos selbst ging zwar die schulische Pflichtlektüre des Shakespeareschen Dramas spurlos vorbei, doch eine Ballett-Inszenierung an der Budapester Oper begeisterte dann den jungen Tänzer, der später selbst verschiedene Rollen in ?Romeo und Julia? tanzte. So war es ihm inneres Anliegen, das Ballett in drei Akten selbst zu choreographieren. Die ganze Vielschichtigkeit der Tragödie mit ihren unterschiedlichen Leidenschaften, Motivationen und auch komödienhaften Elementen auf die Bühne zu bringen, war sein hohes Ziel – hinter welchem er jedoch zurückbleiben mußte.

Schon als sich der Vorhang hebt, kann man ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken, denn nichts erinnert an das Verona der Renaissance. Wo ist der Prunk, die reichen Gewänder und vor allem: wo ist der Balkon? Youri Vámos hat die Handlung in irgendeine italienische Kleinstadt der 1930er Jahre versetzt, ohne daß dies auch nur wenigstens einen politischen Hintersinn hätte. Prokofjew schrieb in diesen Jahren seine klare schnörkellose Musik zum Ballett, und nur dies ist der Grund für die Wahl jener Zeit. Jedoch erinnern Kostüme und die Bühnenausstattung eher an die Viertel italienischer Einwanderer in New York. Ja, die ganze Inszenierung riecht überhaupt stark nach Broadway, nach Reminiszenzen ans amerikanische Musical. Der Ball im Hause der Montagues wird zum Tango im verräucherten Club, die Kämpfe der verfeindeten Parteien erinnern an die Bandenkriege in der 42ten ? besonders wenn noch ein Oldtimer mit den Drahtziehern im Hintergrund vorbeifährt ?, und die Gruppentänze assoziieren in ihren Formationen beim Zuschauer die Tanzeinlagen in der Bernsteinschen West Side Story.

Das Bühnenbild ist zwar minimalistisch, aber im ersten Akt dennoch überzeugend. Der Bühnenraum wird durch graue Wände zum Guckkasten verengt, von dem unzählige Türen abgehen, die dem Zuschauer die Sicht der jungen Protagonisten auf ihr Leben verdeutlichen: Die scheinbaren Möglichkeiten und Perspektiven, die sich den ahnungslos Heranwachsenden zu Beginn offenbaren, werden durch die Machenschaften der Familien und die unerlaubte Liebe zur Ausweglosigkeit ? die Türen schließen sich.

Maiko Oishi und Sebastian Angermaier, die in dieser Aufführung ihr Debüt als Julia und Romeo tanzen, berühren vor allem in der Verspieltheit der letzten Kindertage, die sie übers Bett tollend in wilden Bewegungen zelebrieren. Die Tragik der getrennten Liebenden wird auf dieser dominanten Folie der Kindlichkeit dann allerdings für den Betrachter zur überschnellen Reife und erschwert ein Mitleiden am Schicksal der Unglücklichen.

Eher blass und undeutlich ist das nächtliche Liebesgeflüster in Julias Kammer gegen die eindrucksvolle Gewalt der Straßenkämpfe der verfeindeten Cliquen. Hier brillieren die Tänzer des Leipziger Balletts und zeigen ihre Empfänglichkeit für Vámos‘ oft eher unklassische Formensprache. Die geschlossene Wirkung dieser Szenen wird unterstützt von der Musik Prokofjews, die oft an Filmmusik erinnert und vom Gewandhausorchester unter der Leitung von Claude Schnitzler gekonnt interpretiert wird.

Bei aller tänzerischen Überzeugungskraft wird jedoch schnell klar, daß ein anderthalbstündiges Ballett gegenüber dem dreistündigen Drama Shakespeares die schauspielerischen Möglichkeiten der Solo-Tänzer überfordern muß: Der Tanz ist ja zurückgeworfen auf die Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers und muß hier unter dem Anspruch Vámos‘ in kurzen, schnell wechselnden Szenen das leisten, was das Drama in einer fein differenzierenden Wort-Sprache zu vermitteln weiß. Auch wenn die formale Struktur des Dreiakters beibehalten wurde, wechseln die Szenerien zu schnell und wirken unvollständig im Gegensatz zum Original.

So glättet Youri Vámos viel am Shakespeareschen Stoff, um den Spannungsbogen straff zu halten: Wo ist Rosalinde, die Romeos Liebe als sprunghaft denunziert und den tragischen Verlauf der Liebe zu Julia in die Hand der elterlichen Machenschaften gibt? Wo ist die Amme, die ihre junge Herrin vor Torheiten bewahren will und deren eigene Sehnsucht nach Liebe sie doch zur Komplizin werden läßt? Wo ist der Glaubenskonflikt des Priesters, der letztendlich doch zum Schutze seiner verliebten Schäfchen den Ehebund schließt?

Bei Vámos klärt sich alles zu leicht, die Handlung strebt ungehindert voran. Und wenn Vámos den übermütigen Mercutio (Giovanni di Palma) von einem Pistolenschuß getroffen fünf Minuten lang sterben läßt, wirkt dies im rastlosen Fortschreiten der Erzählung eher bemüht als anrührend tragisch.

Dem Zuschauer stellt sich die Frage nach der Ernsthaftigkeit des choreographischen Bemühens: Geht es Vámos wirklich um die Tragik der Liebenden oder will er nicht doch nur irgendeine unterhaltende Geschichte erzählen? Scheidet sich hier nicht das Ballett vom Musical-Tanz? Im Ballett will das Gefühl seine Soli tanzen und in Ruhe seine Pirouetten drehen. Da will der Zuschauer nicht schnell abgespeist werden und ständig neues serviert bekommen, sondern ordentlich schwelgen. Eine zu narrative Inszenierung, wie sie Vámos hier bietet, muß an Tiefe verlieren, weil sie zuviel um rein erzählerische Dichte bemüht ist. Am Ende verläßt man die Oper und wurde gut, ja kurzweilig unterhalten, doch leider nicht wirklich berührt – so wie es Shakespeares Geschichte eigentlich verdient gehabt hätte.

Vámos‘ Stärken sind die Gruppenkompositionen, das Gegen- und Ineinander der verfeindeten Banden, die Bewegungen der Straße, die Lazzi der Gaukler zur Prozession, die Fechtkämpfe der jungen Heißsporne ? da beweist sich Vámos‘ Choreographie als wirkungsvoll und ästhetisch. Die Finsternis und die Groteske sind Vámos‘ Bereiche, nicht das noble Menschengeschlecht. Dafür fehlt seinen Bewegungen das Pathetische, das Heroische und schlechthin Gute. Die Krümmung der menschlichen Seele kann Vámos‘ Formensprache auf das Genialste wiedergeben, wie es z. B. sein Ballett ?Nosferatu? gezeigt hat. Die Grenzbereiche des Menschlichen, das Absurde und Schattenhafte sind die eigentlichen Gegenstände seiner Bewegungsinventionen und nicht die edlen Regungen naiver Halbkinder. In der Leipziger Inszenierung des Ballett-Klassikers bleibt er daher hinter seinem wirklichen Können zurück.

Vámos ist eigentlich ein E. T. A. Hoffmann des Tanzes und kein klassischer Schöngeist, was seine Choreographie des ?Romeo und Julia?-Stoffes einmal mehr gezeigt hat.

(Jenny Lagaude)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.