Tragische Wucht

Gewandhausorchester mit Herbert Blomstedt spielt Mahlers Sechste im Grossen Concert

„Der Gang zum Schafott“ war meine erste Assoziation, als ich vor vielen Jahren Mahlers 6. Sinfonie zum ersten Mal hörte. Mein Musiklehrer spielte sie der Klasse vor, und wir sollten aufschreiben, was uns dazu einfällt. Auch heute hat dieser Marschrhythmus des ersten Satzes nichts von seiner Faszination und programmatischen Wirkung auf mich eingebüßt. Von Anfang an wird der Zuhörer in ein Geschehen hineingerissen, das ihn nicht mehr los lässt und nur wenige Momente des Innehaltens erlaubt.

Als Kontrast zum Marschthema erklingt im ersten Satz das sogenannte „Alma-Thema“, eine überschwängliche Melodie, in der Gustav Mahler seine geliebte junge Frau portraitiert hat. Die 6. Sinfonie entstand in den Sommermonaten 1903 und 1904 unter sehr glücklichen Lebensumständen. Umso unverständlicher war Alma Mahler die tragische Wucht des Werkes, das sie sich später zu erklären versuchte mit den Worten, Mahler habe sein Leben und die folgenden Schicksalsschläge „anticipando musiziert“. Ein Erklärungsmodell unter vielen, um sich dieser Sinfonie voller Rätsel und Düsternis zu nähern. Max Brod ging sogar so weit, vor allem im Finale des Werkes „eine fürchterliche Vorausahnung des grausigen Geschehens von Treblinka, Auschwitz!“ zu sehen.

Herbert Blomstedt kostet mit dem Gewandhausorchester die Kontraste der Mahler’schen Musik voll aus. Sphärische Klänge von Celesta, Harfe und Kuhglocken, die Assoziationen an Märchenwälder und idyllische Landschaften heraufbeschwören, wechseln sich ab mit dröhnenden Märschen und vollem Blecheinsatz. Der zweite Satz, ein groteskes Scherzo, dem man seine Lustigkeit nie ganz abnimmt, dessen Lebensfreude immer gebrochen und komplex erscheint, gibt Raum für diverse Soloeinsätze von Geige, Oboe und Flöte. Brillant auch der erste Hornist, der viele verhaltene Hornsoli gekonnt meisterte und zurecht beim Applaus als einer der ersten Solisten die Hand des Dirigenten gereicht bekam.

Wie ein Fremdkörper liegt das Andante in dieser an sich mehr klassizistisch gebauten Sinfonie. In der Tonart weit von den übrigen Sätzen entfernt – das Es-Dur des Andante steht im Tritonus-Verhältnis zur Haupttonart a-Moll – bietet dieser dritte Satz ein retardierendes Moment vor der endgültigen Katastrophe des Finales. Eine elegische, „unendliche Melodie“ trägt diese Musik, immer wieder von entrücktem Glockengebimmel und sphärischen Klängen unterstützt.

Mit einem Aufrauschen von Harfe und Celesta beginnt das Finale und knüpft in seiner Motivik an die Marschrhythmen des ersten Satzes an. Souverän und kraftvoll zugleich führt Herbert Blomstedt sein Orchester zu sich ständig neu aufbauenden Höhepunkten. Gewaltige Melodiebögen, vor allem im Blech, sorgen für eine große Klanggewalt. Auch die sieben Musiker am Schlagzeug haben alle Hände voll zu tun: Ein Hammerschlag gebietet der emphatischen Melodie ein Ende. Der Vorgang wiederholt sich, doch den magischen dritten Hammerschlag – er sollte kurz vor Schluss fallen – hat Gustav Mahler wieder gestrichen. Erwin Ratz, Herausgeber der Gesamtausgabe, mutmaßt dazu: „Der Tod (ist) nicht mehr Ende, sondern Aufstieg zu neuen Sphären… So musste also der dritte Hammerschlag gestrichen werden, denn er hätte das Gefühl eines absoluten Endes zu sehr verstärkt.“

Doch auch ohne den dritten Schlag ist der Eindruck des Werkes erschütternd und bombastisch. Der Beifall brandete zu früh auf, nachdem die Sinfonie ? als einzige von Mahlers Sinfonien – in Moll geendet hatte, und die Spannung kaum aus den Armen des Dirigenten Herbert Blomstedt gewichen war.

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-Moll

Gewandhausorchester
Dirigent: Herbert Blomstedt

Freitag, 26. Juni 2003,Gewandhaus, Großer Saal

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