Die Sucht nach Kino

Der Dokumentarfilm „Cinemania“

Die zwei einzigen Städte der Welt, in denen man richtig ins Kino gehen könne, seien doch eigentlich nur Paris und New York, meint Bill. Was sich Bill damit eingesteht: Er leidet an Cinemania. Genau wie vier andere New Yorker Kinosüchtige, die Angela Christlieb und Stephan Kijak auf ihren täglichen Hetzjagden durch die Kinos der Stadt begleiten, um sie bei der einzigen für sie wichtigen Frage zu verfolgen: Wie kann man möglichst viele Filme an einem Tag sehen?

Hiernach richtet sich das gesamte Leben der 40- bis 60-jährigen offenkundigen Neurotiker aus. Zeit für einen Job bleibt da natürlich nicht mehr. Die kleinen Wohnungen, solange sie noch nicht gekündigt sind, sind zu Höhlen des Filmwahns herangewachsen, überfüllt mit Videokassetten, Filmbüchern, Schallplatten mit Filmmusik oder wie bei Roberta gar mit Kino-Trinkbechern, jedem denkbaren Kinoprogramm und sämtlichen Eintrittskarten, die sich seit Jahrzehnten angestaut haben. Wenn eine Kartenabreißerin ein Ticket einmal schonungslos zerreißt, wird sie von der zur Hysterie Neigenden schon mal an der Gurgel gepackt. So zeichnet sich jeder bei den Gemeinsamkeiten auch stets durch seine eigenen ganz absonderlichen Macken aus. Jack zum Beispiel ist bemüht, sich stets durch Hamburger und andere stopfende Mahlzeiten zu ernähren, um nicht etwa durch ballastreiche Rohkost im Kino vom Toilettendrang überrascht zu werden. Bill hat studiert und interessiert sich angeblich sehr für Philosophie und Kulturtheorie und sei obendrein auch noch Autor, sofern er die Zeit dafür fände. Die verbringt er aber ausschließlich damit, sein tägliches Kinoerlebnis penibel genau vorzubereiten. In einer Tasche führt er selbst im Sommer Rheumawäsche mit sich, falls er im Kinosaal frieren sollte, Tabletten für Rückenschmerzen, Aufputschmittel für die Nachmittage und Schlaftabletten, falls das Ende des Films so traurig ist, dass es ihn um die Nacht bringen könnte.

Genau so hektisch und schnell wie die fünf Cinemaniacs zu den U-Bahnen laufen, um nicht den Anfang des nächsten Films zu verpassen, verfolgt sie die Handkamera von Angela Christlieb. Der Film rauscht wie das Treiben auf den nächtlich beleuchteten New Yorker Straßen, das Schlangestehen an den Kassen, die Platzsuche im Saal oder das Video daheim. Eingeschoben werden Ausschnitte aus Filmen der 50er, 60er Jahre. Kinobetreiber, Kassenfrauen und Filmvorführer erzählen Anekdoten über die Filmvernarrten. Wir werden Zeuge ihres Wahns und erleben auch manche überraschende Einsicht. Dann zum Beispiel, wenn Jack den Witz wiederholt, den man über ihn erzählt. Man sagt, er träume in Cinemascope oder Schwarzweiß, dann aber plötzlich stoppt der Traum, weil das Format ein falsches ist. Und er ergänzt, ein Video wäre dann wohl ein Alptraum. Es weiß sehr wohl von der Neurose des Cinemania sowie seinen Gefahren und gesteht, dass das Kino ihn oftmals vor dem Leben rette.

So liebenswürdig die fünf Gestalten auch sind, sie erinnern uns zwar daran, wie hübsch verrückt einen eine Liebe machen kann, aber wir erfahren fast ausschließlich nur, in welcher Form sich ihre Filmsucht äußert. Ohne Zweifel nehmen wir den Cinemaniacs ihre Filmliebe ab, aber zu sehen bekommen wir nur die Folgen: Begeisterte oder auch ermüdete Gesichter von einer steten Traurigkeit gezeichnet, ihr gehetztes Treiben und ihre Gespräche über die Länge des Films, die Qualität der Kopien und vor allem über Schauspieler. Darin sind sie wandelnde Lexika über mindestens 50 Jahre Filmgeschichte. Aber wir erfahren auch, wie es Jack ganz richtig über Bill formuliert, dass er die Filme zwar liebt, als Kritiker aber unfähig ist. Das, was er an den Filmen liebt, werden wir also sicher nicht von ihm selbst erfahren können.

Aber genau hier machen die Regisseure und Drehbuchautoren Christlieb und Kijak zu früh halt. Sie verharren an der Oberfläche, an den offensichtlichen Ereignissen, an den Äußerungen ihrer Akteure, bei den Verrücktheiten, über die wir uns amüsieren können. Jedoch keiner von uns kann diesen (Liebes-) Wahn speziell für das Kino in dieser Weise teilen. Ihre Suchtsymptome sind zu sehr ins Extrem übersteigert, so dass sie nur noch fremd erscheinen. Die Cinemaniacs sind also einfach verrückt, und über Verrückte lässt sich bekanntlich gut lachen. Ihre Abhängigkeit können wir in Cinemania sehen, von der Ekstase der Sucht bekommen wir erzählt, aber nachspüren können wir sie nicht, es kommt zu keinem äquivalenten Nacherleben. Obgleich auch für uns das Kino keine fremde Droge ist, wir wissen sehr wohl von der Magie des Kinos, die auch uns berauscht. Aber, was genau ist seine Magie? Von den Cinemaniacs erfahren wir es nicht, denn es scheint ihnen wie auch uns oftmals an tiefgründigeren Ausdrucksmöglichkeiten zu fehlen, über den Film zu sprechen. Das macht sie nicht unsympathisch, der Film aber sollte hier weitergehen und tiefer hinter die Fassade schauen. Schließlich glauben wir zweifellos, dass das Kino tiefgründig magisch auf sie wirken muss.

Hiervon bekommen wir in zwei der stärksten aber raren Szenen eine Ahnung: wenn Eric und Jack während einer Musicalszene vor dem Fernseher daheim kindlich vergnügt die Augenbrauen heben oder lauthals zu lachen beginnen, oder wenn Roberta am Ende einer Vorstellung tief in den Sessel gedrückt noch fast zu Tränen gerührt ist über die Traurigkeit dieses Liebesfilms. Wenn sie nach Worten der Erklärung sucht: Weil eine Figur darin die andere „so sehr, so sehr“ liebt. Und wir ahnen, dass dieser Film Roberta an eine unerfüllte Liebe ganz tief im Innern ihrer selbst erinnert. Aber welche? Die Frage beantwortet uns Cinemania nicht. Er begibt sich noch nicht einmal auf die Suche danach. Viel bequemer lässt es sich erzählen von der weitaus schrilleren und witzigeren Klogeschichte Jacks, Robertas hysterischem Anfall oder der Sehnsucht nach Sex in Schwarzweiß. Aber die Verbindung zu uns ist damit abgekappt. Das Bewegende des Kinos ist jedoch auch immer die Berührung mit uns selbst. In Cinemania müssen wir weitgehend darauf verzichten und können uns stattdessen umso leichter amüsieren – oder auch langweilen.

Cinemania
Dokumentarfilm
BRD / USA 2002, 80 Min.
Regie + Buch: Angela Christlieb, Stephen Kijak
Mitwirkende: Jack Angstreich, Eric Chabourne, William Heidbreder, Roberta Hill, Harvey Schwartz
Schaubühne Lindenfels, 18. Juli 2003

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