Orgel gegen Big Band. Ein ungleicher Kampf?!

Der Leipziger David Timm musiziert beim XVII. Internationalen Tallinner Orgelfestival 01.-10. August 2003

Das XVII Internationale Tallinner Orgelfestival bringt erneut die Menschen nicht nur in die Tallinner Kirchen, sondern auch in Pärnuer Konzertstätten sowie in kleinere Landkirchen. Von insgesamt 25 Konzerten fanden in Tallinn neun statt (dazu viermal auch die traditionellen samstäglich/sonntäglichen Orgelstunden in der Niguliste), in Pärnu sieben Konzerte und neun Konzertabende in verschiedenen Landkirchen in ganz Estland (darin auch ein Open-air Konzert am Leigo See in Südestland). Neben estnischen Organisten wie Andres Uibo, Aare Paul-Lattik oder Toomas Trass sind auch diesmal ausländische Gäste aus Deutschland (Wolfgang Zerer, David Timm), Holland (Peter van Dijk), Belgien (Serge Schoonbroodt), Ungarn (Andras Viragh) und Kanada (Philip Crozier, Sylvie Poirier) eingeladen. Auch diesmal gibt es Meisterkurse (Scherer, Schoonbroodt, van Dijk) und selbst ein Vokaltrio, drei Damen aus Norwegen (Trio Mediaeval), geben dem Festival eine internationale Note.

Durchaus fürs Experimentelle aufgeschlossen, hat der Gründer und künstlerische Leiter des Tallinner Orgelfestivals Andres Uibo auch diesmal die richtige Nase für ein frisches und durchaus fürs Volk gedachtes Programm bewiesen. Wie auch vor einem Jahr kristallisieren sich erneut deutlich drei Säulen in der Programmgestaltung heraus. Damals waren es erstens: traditionelle Orgelklassiker, zweitens: uralte estnische Volksmusik (aus Süd-Estland) und Bearbeitungen estnischer Volksweisen, sowie drittens: Jazz und Orgel. Dieses Jahr kann man erleben erstens: traditionelle Orgelklassiker, zweitens: gregorianische und tibetanische Musik, sowie drittens: Jazz und Orgel.

Es bleiben (natürlich) die Orgelklassiker von Bach bis Liszt, von Franck bis Messiaen, von Buxtehude bis Reubke; neu erscheinen gregorianische und tibetische Gesänge sowie mittelalterliche Musik; zur Tradition mausert sich das wunderbar funktionierende Duo Jazz und Orgel. Schon zum dritten Mal nun ist der Leipziger Organist, Dirigent, Komponist und Organisator David Timm in Estland Stammgast und wird jedes Mal erneut mit offenen Armen empfangen.

Durch Timm hat der Jazz Einzug in die estnischen Kirchen gehalten und so manche alte Orgel in Dorf und Stadt hat zuletzt noch swingen gelernt. Dieses Jahr nun ist Premiere für eine neu gebaute und gerade erst frisch eingeweihte große Königin der Instrumente im großen Saal des neuen Konzerthauses in Pärnu, auch sie muss das Jazzen und Swingen lernen, dafür schon gleich gegen eine Big Band antreten. Martin ter Haseborges jüngstes Kind hat ihre Jazz-Taufe glücklich bestanden, auch wenn ihre Innereien noch nicht vollständig „ausgewachsen“ sind. Der Jazz-auf-der- Orgel-Begeisterung sind auch andere Interpreten gefolgt, diesmal der Vorsitzende der Gesellschaft der Estnischen Orgelfreunde Aare Paul Lattik, welcher zusammen mit dem in Estland allseits bekannten Saxophonisten Villu Veski Ausschnitten aus den drei Kirchenkonzerten (1965, 1968, 1973) keines Geringeren als des Altmeisters Duke Ellington (1899-1974) präsentiert.

Im Pärnuer Konzert in der Elisabeth-Kirche (9. August 2003) gerät der Klang ein wenig aus den Fugen, teils durch eine sehr hallige Kirchenakustik, teils durch zu dicke und wenig abwechslungsreiche Registrierung (oder Arrangierung!). Wenn Jazz von Noten gespielt wird und wie in diesem Falle Ausschnitte auch noch für Orgel arrangiert sind, so ist es schwer, den improvisatorischen Charakter aufrecht zu erhalten. Im Verlauf dieses Konzertes jedoch wird die anfängliche Klangmasse immer mehr auskristallisiert und zu stilechten Charakterstücken modelliert. Besonders in der Zugabe wird klar, dass beide (Lattik und Veski) „es drauf haben“, den Jazz aus dem Blut auch in die Finger zaubern können.

Doch zurück zu Timm, der Estonian Dream Big Band (EDBB) und dem offiziellen „Superstar“ des Abends, der neuen Orgel. Mit drei Manualen, neuester Technik und ausfahrbaren „Spanischen Trompeten“ ist sie zur Zeit die modernste in ganz Estland. Die Pfeifen des Trompetenregisters (in wagerechter Lage angebracht) können in 12 Sekunden herausgefahren werden, da sie sonst nicht vollständig in den Orgelkörper passen würden. Ter Haseborg ist in Estland kein Unbekannter mehr, hat er doch 1999 der Estnischen Musikakademie ein nicht nur optisches, sondern auch akustisches Schmuckstück eingebaut.

Was Timm in den beiden vergangenen Jahren mit Lembit Saarsalu (Saxophon) im Duo probierte, kann er nun mit einer erstklassigen Big Band und sattem Sound vollbringen. Trotz ihres bisher recht kurzen Bestehens (seit 1998) hat sich die EDBB zu einem Spitzen-Ensemble entwickelt, welches auch im Ausland immer mehr gefragt ist. Auch wenn sie an vielen Stellen die Orgel übertönt hat, bei so viel Power ist das nicht verwunderlich. So manches begeistert mit Zwischenapplaus belohnte Solo zeigt das Einzelkönnen der Mitglieder dieses Projekt-Ensembles. Manchmal wird ein wenig überforciert geblasen nach dem Motto „volle Kraft voraus“; das zeigt aber die unbedingte Spielfreude aller, ohne dass man deshalb auseinander geraten und der Gesamtklang darunter leiden würde. Auf einen Nenner gebracht: Die EDBB ist durchaus eine Big Band, wie sie im Buche steht – diszipliniert im Chorus, virtuos beim Solo.

Vieles trägt zu diesem positiven Eindruck sicherlich die Arrangierkunst Timm bei, der bei seinen „d-m swings“, „a-m Sambas“ und „d-m Grooves“ sowohl den Bach nicht verschweigt, als auch dem Jazz und dem Improvisieren freien Raum lässt. Am spannendsten sind die nahtlosen Übergänge zwischen dem Bachschen Original Präludium und dem mit Big Band verjazzten Arrangement. Hier schleicht Timm wie eine Raubkatze von der Orgel oder dem Cembalo zum Flügel, „klaut“ sozusagen dem Stammpianisten seinen Platz und heizt erneut ein.

Interessant wird es bei den freien Orgelimprovisationen, die diesmal leider zu wenig Platz hatten. Timm beginnt im Duktus romantischer Orgelmusik, gerät diesmal aber recht bald in jazzmäßige Melodien und Harmonien. Nun nutzt er alle Register der Orgel und der Eindruck eines weichen und wenig kontrastreichen Instruments ist ausgelöscht. Es ist erstaunlich, welche unterschiedlichen Farben, Kontraste und Charaktere die Register dieser mittelgroßen Königin der Instrumente hervorzaubern können. Alle Achtung, wenn man bedenkt, dass noch nicht alle „Eingeweide“ an Ort und Stelle ihrer Bestimmung sind, so hat doch schon der jetzige Eindruck zur Begeisterung genügt. Timms Improvisation geht nun langsam in größere Klangtrauben und Cluster über, doch als man glaubt, er stecke darin fest, kann er sich doch ganz geschickt aus diesem Chaos in kräftige Akkorde „retten“, mit deren übermäßiger Intervallik er letztendlich den Spagat schafft zwischen Bach, Romantik, Neuer Musik und Jazz.

Mit den letzten Stücken wird das Programm eine Mischung aus sinfonischer Instrumentation, Groove- und Samba-Rhythmen, Orgel und Big Band geben sich regen Schlagabtausch. Die Zugabe ist ein Spaß für sich: Ein Mix aus Bach-Gounod, Chopin und Leierkastenmusik gibt dem Abend den endgültigen Schliff. Am Ende gilt der Applaus nicht nur David Timm und der Estonian Dream Big Band, sondern vor allem der Orgel mit ihren erstaunlich reichen Klangfarben und Kontrasten. PS: „Wenn Bach Jazzmusiker gewesen wäre…“
Nachdenken über Barockmusik und Jazz als ein gemeinsam funktionierendes Konzept

Während des Konzerts wird deutlich, warum das Konzept Bach und Jazz aufgeht. Die (Sept/Non)Akkorde bilden hier wie dort das harmonische Grundgerüst, die starke Bassbezogenheit ist sowohl bei Bach als auch beim Jazz wesentliches Strukturmerkmal. Einer Chaconne ähnlich bildet auch beim Jazz der Bass die formbildende Basis. Die Melodiemodelle sind einander manchmal verblüffend ähnlich und wenn ein Bachsches Thema „verswingt“ wird (schon allein die barocken Hemiolen sind der richtige Ansatzpunkt), ist man sofort mittendrin im Jazz. Die Improvisation findet nicht nur beim Jazz, sondern auch bei barocker Musik innerhalb eines sicheren harmonisch-bassgestützten Gerüstes statt, wesentlich ist auch die Rolle der Sequenzen, mit deren Hilfe man beinahe automatisch ein Werk vorantreiben kann. Chorus und Solo im Big Band Jazz können sogar mit dem Concerto-grosso-Prinzip verglichen werden, bei dem eine große und eine kleinere Instrumentengruppe miteinander kommunizieren. Und last not least: Im Jazz wie im Barock gibt es sogenannte Standarts (Stücke die jeder kennt und im Ohr hat), die sowohl für den Improvisator als auch für den Zuhörer zur Kommunikations- und Verständnisbrücke werden.

Tallinna XVII Rahvusvaheline Orelifestival
XVII. Internationales Tallinner Orgelfestival 1.- 10. August 2003

Estonian Dream Big Band (EDBB) David Timm (*1969)
Arrangements (Swing, Samba, Groove) für Big Band und Orgel sowie Orgelimprovisationen auf Bachsche Themen aus dem Wohltemperierten KlavierJohann Sebastian Bach (1685-1750)
Präludium & Fuge a-moll
Präludium E-Dur aus WK I
Präludium cis-moll aus WK I
Toccata & Fuge d-moll

3. August 2003, Pärnu kontserdimaja/Konzerthaus Pärnu, großer Saal, Eesti/Estland/EstoniaDavid Timm (Orgel, Leipzig)

weiteres Konzert mit Timm und EDBB:

Estonian Dream Big Band
Ensemblemitglieder für das Konzert am 3. August 2003 Konzerthaus Pärnu, großer Saal
2. August 2003, Konzertsaal „Estonia“, Talllinn

1. Tr.: Esko Heikkinen
2. Tr.: Aleksei Saks
3. Tr.: Mihkel Metsala
4. Tr.: Domynikas Visniauskas

1. Pos.: Eduard Akulin
2. Pos.: Mart Sock
3. Pos.: Väino P?llu
4. Pos.: Jaanus Teiva

1. Alt-Sax.: Meelis Unt
2. Alt-Sax.: Meelis Vind
1. Ten.-Sax.: Siim Aimla
2. Ten.-Sax.: Danel Aljo
Barriton-Sax.: Salev Sommer

Schlagwerk: Ahto Abner
Gitarre: Karel Laanekask
Klavier: Jürmo Eespere


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