Grenzbegegnungen an der Oder

Hans-Christian Schmids jüngster Film „Lichter“

Im Dunkeln leuchten Lichter heller. Sie funkeln wie Sterne, die einem den Weg weisen. Sie sind das Licht, dem man entgegenstrebt. Doch so hell und wärmend Lichter zu leuchten beginnen, so plötzlich können sie auch verblassen. Lichter sind die Sehnsüchte und Hoffnungen der Protagonisten in dem neuen Film von Hans-Christian Schmid. Der Film Lichter funkelt hell in der deutschen Filmlandschaft, doch ist auch bei ihm nicht absehbar, wie weit er in der Erinnerung womöglich zu verblassen droht.Lichter ist Schmids mit Spannung erwarteter vierter Spielfilm, ausgezeichnet mit dem Preis der internationalen Filmkritik FIPRESCI und wie bereits seine vorangegangenen Filme mit dem Deutschen Filmpreis in Silber. Er zählt zu den interessantesten jungen deutschen Filmemachern. Geboren 1965 im bayrischen Altötting, studierte er an der Münchener Filmhochschule und erregte bald Aufsehen mit dem Dokumentarfilm Die Mechanik des Wunders, in dem er in seiner Heimatstadt den Widerspruch zwischen Glaube und Kommerz entblößt. Auf sein Kinodebüt Nach fünf im Urwald, für das er Franka Potente entdeckte, folgten sehr erfolgreich 23, der August Diehl zum Star machte, und Crazy, die Verfilmung von Benjamin Leberts Romanvorlage und gleichzeitig Entdeckung von Robert Stadlober und Tom Schilling. In der umfangreichen Besetzung von Lichter finden sich nicht nur Entdeckungen von jungen Gesichtern, sondern auch älteren, hierzulande kaum bekannten Schauspielern aus Russland und Polen. Ebenso sind auch Schmids Themen reifer geworden. Im Zentrum steht nun nicht mehr so sehr das Erwachsenwerden, als das schonungslose Erwachsensein.

Der Episodenfilm erzählt von zwei Tagen, vom Leben an der Oder, von Grenzbegegnungen zwischen Frankfurt und dem polnischen Slubice. Eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge verfällt den Verheißungen einer Schlepperbande. Im Morgengrauen erscheinen nicht die versprochenen, lang ersehnten Lichter Berlins, sondern das Ortsschild Slubices. Auf ihre Hoffnung, dass dies genau wie in Kiew nur einer von vielen Vororten sei, folgt die Ernüchterung. Als Kolja (Ivan Shvedoff) allein die Flucht versucht, landet er im Verhör bei einem deutschen Grenzbeamten sowie der Dolmetscherin Sonja (Maria Simon), die heimlich Partei für ihn ergreift. Nach seiner Abschiebung wird sie ihn in Slubice suchen gehen mit ihrem skeptischen Freund Christoph (Janek Rieke).

In Frankfurt an der Oder sucht Ingo Mertens (Devid Striesow) erfolglos sein Glück mit einem Matratzen-Discount. Als sich die Angestellte Simone (Claudia Geisler) in ihn verliebt, ist er durch seinen Geschäftswahn bereits zu blind für wahre Gefühle geworden. Für das Kommunionskleid ihrer Tochter arbeitet auch Milena (Aleksandra Justa) bei Mertens, aber heim nach Slubice kehrt sie nur mit dem Lohn einer Matratze. Ihr Mann, der Taxifahrer Antoni (Zbigniew Zamachowski), will in seiner finanziellen Verzweiflung einer kleinen Familie der ukrainischen Flüchtlinge (Sergej Frolov und Anna Janowskaja) über den Fluss helfen. Wegen seiner übergroßen Gutmütigkeit verstrickt er sich in Lügen und wird selbst zum Belogenen.

Während zwei eiskalte deutsche Geschäftsmänner (Herbert Knaup und Henry Hübchen) in Slubice den Bau eines Fabrikgeländes aushecken, trifft der junge Architekt Philip (August Diehl) auf seine alte Liebe, die Polin Beata (Julia Krynke). Die Gefühle blühen so schnell wieder auf wie Philips bittere Einsicht, dass die Zeit nach seinem jahrelangen Schweigen fortgeschritten ist. Lieber widmet Beata mehr als ihr vollstes Engagement den Geschäften. (Es mag kaum Zufall sein, dass Philip zu der folgenschweren Party der Geschäftsmänner in ein Haus mit der verwunschenen Nummer 23 eintritt.). Andreas (Sebastian Urzendowsky) lebt mit seinem älteren Bruder Marko (Martin Kiefer) und seinem Vater Maik (Tom Jahn) auf einem heruntergekommenen Hof bei Frankfurt / Oder. Marko schmuggelt mit Katharina (Alice Dwyer), einem Mädchen aus dem Heim, Zigaretten über die Grenze, die der Vater verhehlt. Als sich Andreas in Katharina verliebt, weist sein Bruder ihn brutal zurück, worauf er sich böse bei ihm rächen wird.

Mit soviel Stoff fordert Lichter viel von seinen Zuschauern. Erschwert wird die Wahrnehmung durch die wacklige Handkamera und einen hektischen Schnitt mit abrupt endenden Erzählsträngen, was aber durchaus nicht unbedacht gewählt sein muss. Die Handkamera ermöglicht eine besondere, beinahe dokumentarische Nähe zu den Figuren und lässt den Schauspielern den größtmöglichen Freiraum, was besonders dem Spiel der Jüngeren zugute kommt. Der Schnitt jedoch gewinnt erst durch die innere Logik des Films und zwar gerade durch das, was man ihm zugleich vorwerfen kann: zu schnell werde die erstaunliche Intensität durch die rasch vorangetriebene Handlung gebrochen. Exemplarisch dafür ist die Szene, als Katharina neben Andreas im geborgten Auto die Handkasse mit dem Ertrag der Schmugglerarbeit findet. Plötzlich funkelt in ihr ein Licht auf, mit ihm durchzubrennen, mit den paar hundert Euro ihr verpfuschtes bisheriges Leben hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen. Tief treffen sich ihre Blicke, aber nur kurz. Noch bevor dieses kurze Glück zum ausschweifenden filmischen Erlebnis wird, kommt der Bruder um die Ecke und bricht die Stimmung mit einer neuen Spannung. So ergeht es allen Episoden. Bevor die Konzentration auf die entscheidenden Momente zu wirken beginnt, ist deren Abbruch nah.

Was für den einen als Schwäche des Films gewertet werden mag, kann für den anderen jedoch als konsequentes Mitfühlen erlebt werden. Die aufleuchtenden und abrupt sterbenden Hoffnungsschimmer der Figuren sind die gleiche Freude und der ebenso überraschende, nachhaltige Schmerz der Ernüchterung, die man hat, wenn man Lichter sieht. Hoffnungslosigkeit und Ernüchterung stehen am Ende aller Geschichten. So schlicht und tragend sind auch die Themen Grenze und Geld, die alle Episoden durchziehen. Der Weg der Akteure ist stets so sehr am Finanziellen orientiert, dass das Scheitern vorprogrammiert ist. Aber auch dies lässt die Verknüpfungen der Geschichten nicht unbedingt einfacher erscheinen. Im Gegenteil, Lichter bleibt noch viel offener als seine einzelnen Erzählungen. Diese beginnen und enden irgendwo an der Grenze zwischen Deutschland und Polen, in zwei Orten und Regionen, die beide zu den „Verlierern“ gehören, und von denen dennoch eine etwas weniger verloren haben möchte als die andere.

Da ist Frankfurt/Oder mit einem Fünftel Arbeitsloser und seiner Perspektivlosigkeit, und da ist Slubice, bisher nicht der Europäischen Union zugehörig, dessen Stadtbild geprägt ist von Wechselstuben, Tankstellen, kieferorthopädischen Praxen und Nachtclubs. Das Schiefgewicht zwischen Arm und Reich, die Hürden und Abgründe von Grenzen – das sind gesellschaftliche Beobachtungen, die Lichter anstellt. Nicht immer werden fertige Fragen formuliert, aber als Bewusstmachungen dienen sie nicht erst im Rahmen der EU-Osterweiterung dringend nötiger Reflexion. Wer hatte schon gewusst, wie es von Kolja in Slubice erzählt wird, dass man aus der Ukraine nicht über Polen nach Deutschland einreisen darf, um das Recht auf Asyl gewährt zu bekommen. Aber welcher Flüchtling hat schon das Geld für einen Flug? Hingegen aber aus Verzweiflung den lebensgefährlichen Willen, durch die Oder zu schwimmen! Die Belohnung dafür ist die Abschiebung.

Nicht erst seit Lichter hat sich das Drehbuch-Gespann mit Michael Gutmann als erfolgreich erwiesen, und durch die gute Erfahrung mit der Band The Notwist ist sie diesmal sogar für den gesamten Soundtrack verantwortlich und findet überwältigende Töne – elektronisch sanft, akustisch mit Zaab und Cello, ruhig, melancholisch, offen. Lichter ist anders als seine bisherigen Filme, aber trägt unverkennbar die Handschrift eines Regisseurs, der auf dem Weg ist, zu den Tiefen seiner eigenen, berührenden Filmsprache vorzudringen. Wie alle anderen, so durchziehen auch Lichter nachhaltig die Wärme und Nähe zu den Figuren. Schmid weckt Neugier auf Menschen, die wir im Kino nur selten so mögen können wie hier. Menschen, die gerade durch ihre Schwächen am zärtlichsten erscheinen. So unklar, so fragwürdig offen Lichter bleibt, gibt der Film auf alle Fragen, die er aufwirft, mit untergründiger Liebe eine Antwort. Seine Hoffnungslosigkeit ist deshalb nur ein Dunkel, in dem neue Lichter wieder hell erleuchten können.

Lichter
BRD 2003, 105 Min.

Regie: Hans-Christian Schmid
Buch: H.-C. Schmid, Michael Gutmann
Musik: The Notwist
Darsteller: August Diehl, Maria Simon, Ivan Shvedoff, Sebastian Urzendowsky, Devid Striesow, Zbigniew Zamachowski

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