Symbolträchtiger Auftakt

Das Eröffnungskonzert der Gewandhaussaison 2003/2004 im Großen Saal

Der Fachmann staunt und der Laie wundert sich: eine deutsche Erstaufführung im Gewandhaus, und das auch noch zur Spielzeiteröffnung! Diese (eher ungewohnte) Offenheit für Neue Musik setzt sich glücklicherweise während der weiteren Saison fort, sodass die „Quatre Instants“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho keineswegs als bloßes Alibi abgetan werden können, sondern eher als eine Ankündigung, in dieser Saison vermehrt auf Unbekanntes und eben auch Neues zu setzen. Man darf gespannt sein.

Den Auftakt des Konzerts und der Saison bildete die im Gewandhaus erstmalig aufgeführte erste Sinfonie des Dänen Carl Nielsen. Dieses Werk des noch jungen Komponisten ist überaus kunstvoll gearbeitet und dabei so individuell in seiner Tonsprache, dass kaum einer der üblichen Einordnungsversuche gelingen will („klingt nach …“, „lässt Einflüsse von … erkennen“). Gewagte harmonische Fortschreitungen, eine fast exzentrisch zu nennende Melodik und eine großartige Instrumentation kennzeichnen ein frühes Meisterwerk, das bereits viel früher hätte Beachtung finden müssen. Aber besser spät als nie.

Die vier Gesänge Saariahos sind zwar durchaus „Neue Musik“; im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Werken benötigen sie aber weder einen Orchesterapparat von über hundert Personen, noch erfordern sie zum Verständnis die Lektüre seitenlanger Kommentare. Vielleicht hat die Nielsen-Sinfonie noch nachgewirkt, vielleicht war die Anspannung zu groß: Die filigranen Kompositionen nach Texten von Amin Maalouf zum Thema Liebe, Verlust und Reue gerieten dem Gewandhausorchester leider etwas zu bodenständig. Die klanglichen Reize der Gesänge konnten sich nicht immer voll entfalten, ebenso wenig wie die wunderbare Stimme Pia Freunds, deren Gestaltung sehr berührte und weit mehr Raum verdient hätte. Wenn Saariahos Musik tatsächlich mit „Parfum“ verglichen werden kann, wie Blomstedt es vor Konzertbeginn tat, dann war es an diesem Abend ein eher schweres und etwas zu aufdringliches Parfum. Trotzdem: eine lohnende Aufführung, und auch keine wirklich schlechte.

Den Abschluss bildete Beethoven; nicht nur, weil Beethoven immer den Saisonauftakt beschließt, sondern auch, weil dieses Konzert zugleich Teil des fast beendeten Nielsen-Beethoven-Zyklus ist. Leider blieb die heutige Aufführung der „Fünften“ ein gutes Stück hinter den Erwartungen zurück. Schon im ersten Satz waren die Präzision des Zusammenspiels und die Differenzierungsfähigkeit unter dem von diesem Orchester gewohnten Niveau. Im Beethovenzyklus der letzten Saison klang das ganz anders! Der letzte Satz ging völlig im Tumult unter. In gnadenlosem Tempo jagte Blomstedt seine Musiker durch die Partitur, als wolle einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Da die Lautstärke in ähnlichem Maß ausuferte, blieb fast nichts als ein zäher, undurchdringlicher Nebel (wobei richtiger Nebel wenigsten keinen ohrenbetäubenden Lärm macht), der alle Schönheiten dieses Finales verschluckte. Wo waren zum Beispiel die atemberaubenden Kontrabass-Passagen? Und überhaupt: Was bleibt vom würdigen Triumph des C-Dur, wenn das ganze Geschehen nur so dahinprescht? Hier ist Blomstedt eindeutig über das Ziel hinaus geschossen.

Als die letzten „Bam-ba-da-ba-da-ba-dam-da-da-dam“-Akkorde verklungen sind, bleibt die Erkenntnis, dass dieses Konzert, trotz des enttäuschenden Finales, ein ungewöhnlicher und interessanter Saisonauftakt war, der Neugier auf die kommenden Programme weckt.

Eröffnungskonzert der Gewandhaussaison 2003/2004

Carl Nielsen: Sinfonie Nr. 1 g-Moll op. 7
Kaija Saariaho: Quatre Instants für Sopran und Orchester
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67

Pia Freund, Sopran
Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt

29.8.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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