Die Wiederentdeckung eines unbekannten Jugendwerks

Ambitionierter Saisonauftakt des MDR mit Berlioz‘ Messe solennelle

Als im Jahre 1991 ein Organist in Antwerpen bei der Suche nach einer bestimmten Edition von Mozarts „Krönungsmesse“ zufällig auf das mehr als 400 Seiten starke Autograph von Hector Berlioz‘ „Messe solennelle“ stieß, war ihm zunächst noch gar nicht bewusst, um welche Sensation es sich dabei handelte. Diese Messe galt nämlich bis dato als unwiederbringlich verloren, nicht zuletzt, weil der Komponist selbst behauptet hatte, er habe sie aus Unzufriedenheit verbrannt. Knapp zehn Jahre nach der ersten Aufführung der wiedergefundenen Komposition erhielten nun auch die Leipziger eine Möglichkeit, dieses Jugendwerk des erst 20-jährigen Berlioz‘ kennen zu lernen. Im Jahr seines 200. Geburtstags ist dies außerdem eine willkommene Gelegenheit, einmal musikalisches Neuland zu entdecken.

Berlioz-Kenner erlebten eine Vielzahl von Aha-Effekten, da der Komponist viele Teile der Messe in späteren Kompositionen „recycelte“. So enthalten die beliebte „Sinfonie fantastique“, die Oper „Benvenuto Cellini“ oder das berühmt-berüchtigte Requiem Elemente der „Messe solennelle“.

Die Messe besteht aus 14 Teilen, von denen drei aus dem üblichen Ablauf einer Messe fallen: zum einen die instrumentale „Introduction“ zu Beginn, zum zweiten die zwischen „Resurrexit“ und „Sanctus“ eingeschobene „Motet pour l’offertoire“, und schließlich das „Domine salvum“ am Schluss. Die Musik ist effektvoll, bisweilen von mitreißender Energie und verweist bereits auf Berlioz‘ kompromisslose Subjektivität im künstlerischen Ausdruck, welche ihn später dazu bringen sollte, ein Requiem zu komponieren, an dessen Aufführung zunächst gar nicht zu denken war. Auch die für Kirchenmusik recht aufwendige Instrumentierung zeugt weniger von Bescheidenheit denn von kompositorischem Ehrgeiz.

Nach einer eher zurückhaltenden Einleitung geriet das Kyrie zu einem ersten Höhepunkt des Abends. Der Chor des MDR gestaltete mit großer Wandlungsfähigkeit die kontrastierenden Teile (Kyrie/Christe) und formte sich am beeindruckenden Schluss des Satzes zu einem einheitlichen Körper von großer Strahlkraft. Nur mühsam konnten sich angesichts dessen einige der Konzertbesucher eines spontanen Applauses enthalten.

Im großen und ganzen kann das Werk Züge des Experimentellen nicht verleugnen. Eigenwillige Kombinationen der Instrumentengruppen, eine stellenweise sehr instrumental gedachte Chorbehandlung und der Wechsel von sakral und opernhaft wirkender Passagen verhinderten immer wieder den Eindruck eines ausgereiften, in sich geschlossenen Werks. Wer sich damit begnügen konnte, eine gute Stunde lang interessante, wenn auch heterogene musikalische Ereignisse auf sich wirken zu lassen, wurde aber dennoch reich belohnt.

Die Aufführung lag bei Fabio Luisi in den besten Händen. Schon in der zur Konzerteröffnung gespielten „Trompeten-Ouvertüre“ von Mendelssohn, einer temperamentvollen und interessanten Komposition, verband Luisi rhythmische Präzision mit gestalterischem Engagement. In der Messe erwies er sich als umsichtiger Begleiter, der immer wieder den Kontakt zu den Solisten herstellte. Der Chor hatte stellenweise deutlich unter Berlioz‘ Gemeinheiten zu leiden, gab jedoch kaum einmal Grund zu Beanstandungen. Das Orchester wirkte meistens wie eine Begleitkapelle im Hintergrund und trat kaum einmal deutlich in Erscheinung. Die Gesangssolisten hatten die undankbare Aufgabe, reglos auf ihren Stühlen zu sitzen und das Geschehen in ihren Partituren zu verfolgen. Nur ein einziges Mal durfte beispielsweise Héléne le Corre ihren Sopran erklingen lassen, dann war ihre Aufgabe erfüllt. Dem Tenor, David Kuebler, erging es kaum anders; auch er hatte nur ein einziges Solo zu bestreiten. Leider überzeugten weder Frau le Corre noch Herr Kuebler mit ihren Darbietungen. Einzig Francesco Ellero d’Artegna (Bass) beeindruckte mit stimmlichem Durchsetzungsvermögen und dramatischer Glaubwürdigkeit.

Insgesamt ist die Aufführung in zweifacher Hinsicht als eine sehr erfreuliche zu bezeichnen: Zum einen verhalf sie einem vergessenen Werk eines (allzu!) selbstkritischen Komponisten zu größerer Bekanntheit, zum anderen gelang ihr das auf alles in allem hohem musikalischem Niveau. Wenn programmplanerische Innovation und künstlerische Qualität in den nächsten Monaten ebenso glücklich zusammentreffen, kann man auf die weitere Saison gespannt sein.

Felix Mendelssohn Bartholdy: „Trompeten-Ouvertüre“ op. 101
Hector Berlioz: Messe solennelle

Héléne le Corre, Sopran
David Kuebler, Tenor
Francesco Ellero d’Artegna, Bass
MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor
Leitung: Fabio Luisi

07.09.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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