Offen für Neues

Das Gewandhausorchester spielt Werke von Bruckner, Lidholm und Pärt im Großen Concert

Arvo Pärts Komposition Fratres ist Musik, die vor allem emotional wirkt, die den Hörer durch das Erzeugen einer meditativen Atmosphäre in ihren Bann schlägt. Aus den vielen vorhandenen Fassungen wurde im heutigen Konzert diejenige für Streichorchester und Schlagzeug ausgewählt. Die strukturelle Einfachheit, welche an der Faszinationskraft dieser Musik einen entscheidenden Anteil hat, kommt in dieser Fassung besonders gut zum Ausdruck.

Das Stück beginnt mit leisen rhythmischen Schlägen des Schlagzeugs, bestehend aus Klanghölzern und großer Trommel, woran sich unmittelbar die Streicher mit einer Hymnenmelodie anschließen, welche von einem sonoren Bordun unterlegt ist. Der weitere Verlauf der Musik ist durch die Verschiebung zweier kompositorischer Parameter bestimmt: Bei jeder Wiederholung der Streichermelodie sinkt der Tonraum um ein bestimmtes Intervall hinab, während sich der Lautstärkegrad vom kaum hörbaren Bereich bis zur gewaltigen Volltönigkeit und wieder zurück entwickelt. Die einzelnen Phasen werden jeweils durch die Schlagzeugakzente vom Beginn des Stücks voneinander abgesetzt, welche auch das Ende der Komposition markieren. Herbert Blomstedt realisierte diese Studie orchestralen An- und Abschwellens mit sicherem Gefühl für die dynamischen Abstufungen. Nur die Randbereiche der Lautstärkeskala hätten ein wenig intensiver ausgespielt werden können.

Nach den Fratres stand eine Komposition des Schweden Ingvar Lidholm auf dem Programm. Wird den Gewandhausprogrammen oft vorgehalten, der ohnehin geringe Anteil an Neuer Musik bestehe meistens aus „harmlosen“ Werken, die das Publikum durch impressionistische Anklänge etc. versöhnten, so lässt sich dergleichen über Kontakion mit Sicherheit nicht mehr behaupten. Die Besetzung des Werks unterscheidet sich drastisch von derjenigen der Fratres. Lidholm bietet ein sehr großes Orchester auf, das unter anderem Gong, Harfe, Xylophon, drei Posaunen und Tuba enthält. Er nutzt diesen Apparat aber (im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten) nicht für aufgesetzte Effekte, sondern er formt aus den verfügbaren Klangfarben experimentelle Klänge von beeindruckender Vielfalt.

Der Beginn des Werks schockiert zunächst: Die vielfach geteilten Streicher formen einen schwirrenden Cluster in höchster Lautstärke, an den sich eine vielschichtige motivische wie auch klangliche Entwicklung anschließt. Diese Musik vermittelt den Eindruck schmerzlichster Klage. Dissonante Ballungen, schneidende Glissandi und rhythmische Explosionen verleihen dem „Thema“ der Komposition, den „Leiden des russischen Volkes in Vergangenheit und Gegenwart“ (Programmheft) auf verstörende Weise Ausdruck. Im weiteren Verlauf des Werks weicht die Klage einer resignativen Trauer. Ergreifende Soli der Holzbläser markieren diesen Übergang. Am Ende der Musik steht dann aber doch die Hoffnung auf Erlösung: Äußerst zart stimmt eine Ferntrompete die Melodie eines Hymnus der russisch orthodoxen Liturgie an und gibt damit der Komposition einen versöhnlichen Abschluss. Die Aufführung dieses eher unbequemen Werks lag beim Gewandhausorchester in guten Händen, das Lidholms Klagegesang mit großem innerem Engagement und hoher Professionalität gestaltete. Vor allem die wunderschönen Soli (Fagott, Trompete etc.) verdienen Erwähnung. Als besonders erfreulich ist aber zu verbuchen, dass das Publikum sich durchaus aufgeschlossen zeigte und nicht mit Applaus sparte. Dieser Umstand sollte den Programmplanern ein Ansporn sein, den begonnenen Weg fortzusetzen.

Nach der Pause gab es dann Bruckners Sechste, und spätestens jetzt waren auch diejenigen zufrieden, welche den modernen Klängen nichts abgewinnen konnten. Blomstedt erwies sich einmal mehr als hervorragender Bruckner-Dirigent. Dass er das komplizierte und eher selten aufgeführte Werk auswendig dirigierte, zeigt, wie sehr ihm diese Musik am Herzen liegt. Während es im dynamischen Bereich immer wieder einmal kleinere Ungenauigkeiten gab, was die Gewichtung der Stimmen und die Lautstärke des Tuttiklangs betrifft, geriet die Aufführung exzeptionell, was die strukturell formale Seite anbelangt. Eine deutliche Differenzierung der einzelnen Orchestergruppen, ein sensibles Freilegen der linearen Verflechtungen und eine durchweg überzeugende Tempowahl ließen auch den zweiten Teil des Konzerts zum Ereignis werden, zumal die Musiker sich an allen Pulten von ihrer besten Seite zeigten. Mit den gewohnt ohrenbetäubenden Klängen eines Brucknerschen Sinfoniefinales endete schließlich ein Konzertabend, der dem Publikum noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Arvo Pärt: Fratres für Streichorchester und Schlagzeug
Ingvar Lidholm: Kontakion. Hymne für Orchester
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 6 A-Dur

Gewandhausorchester
Dirigent: Herbert Blomstedt

12. September 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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