17.09.2003, Schaubühne Lindenfels
Katja Oskamp liest aus ihrem Erzählungsband ?Halbschwimmer?, Ammann 2003
Alles ist jetzt
Es scheint, die Zeiten sind vorbei, in denen um die neunzig Prozent aller erzählenden Texte im Imperfekt geschrieben wurden. In der jüngeren Literatur mehren sich Erzählungen und Romane, die ein Geschehen aus der Ich-Perspektive und im Präsens schildern – sicherlich aus dem (auch marktgerichteten) Bedürfnis heraus, Augenblicke so unmittelbar und authentisch wie möglich erscheinen zu lassen.
Nun ist die Wahl des Ich-Präsens, wie es hier abgekürzt heißen soll, nicht ohne Gefahr, kann man doch dieser Form eine gewisse Künstlichkeit in der Schriftsprache nicht absprechen. In der gegenwärtig sukzessiven Handlung, die vom selbst erlebenden und subjektiv eingeschränkten Ich vermittelt wird, läßt sich schwierig über Erinnerungen verfügen, und zuweilen wirken Sätze, wie: ?Ich gehe? oder ?Franz schluckt?, etwas unterkomplex.
Um so angenehmer ist es zu hören, wie virtuos Katja Oskamp die Klippen im Erzählfluß des Ich-Präsens umschifft. ?Noch mal reden? ist die neunte und letzte der Geschichten aus ihrem Band ?Halbschwimmer? und entführt uns gemäß Pouillons ??tre dans la peau d’un personnage? in die Haut eines Mädchens / einer jungen Frau, die sich auf dem Weg zu einer Beerdigung befindet. Es ist eine Reise auf den eigenen Beinen, und die Frau ?muß da tief rein, in die Schauspielertraube?. Oskamp erschafft eine Situation, Beklemmung zunächst, man gerät hinein.
Wer gestorben ist, erfährt man später: ?Karls Beerdigung ist hoffnungslos ausverkauft.? Noch später erfährt man, warum er gestorben ist. In geschickt verzögerter Informationsgabe werden Stücken zu einem Bild geliefert, das die Beziehung der Protagonistin zu dem älteren Liebhaber bzw. der Vaterfigur darstellt. Der Strich ist einfach, zuweilen derb, von naiver Schönheit: ?Das Gute an Sandalen ist, daß der Sand hinten wieder rausrutscht? und entwaffnender Logik: ?Zu spät kommen und zu früh gehen, das ist beinah, als wäre man nicht dagewesen.? Zu einem Höhepunkt des Textes gerät eine Passage des verbalen Angriffs auf den Trinker Karl, stark und emotionsreich, ein rundes Rechteck Literatur. Und philosophisch gestimmten Hörern bereitet Katja Oskamp eine Nebenfreude: Erinnerungen werden im Präsens eingeblendet, übergangslos, gleich gegenwärtig. Präsens ist Präsenz, Vergangenheit und Gegenwart befinden sich in derselben Zeitform.
Der unaufgeregt und wohlklingend gelesene Text hält über eine Stunde die Spannung. Ruhig sitzt die Autorin auf der Bühne, fast statisch, und sagt nach dem Applaus: ?Also, wenn Sie mögen, gleich unten, können wir noch bißchen plaudern.?
(Grit Kalies)
Kommentar hinterlassen