Buchempfehlung: Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne – 1909 bis 1921 (Steffen Lehmann)

Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne – 1909 bis 1921. 2. Auflage, Carl Hanser Verlag, München, 2002, 703 Seiten, geb., 34,90 Euro.


Der lange Weg zurück nach Westen

Kein St. Petersburg ohne Zaren. Damals wie heute. Den Grundstein legte 1703 Peter der Große. Den Platz in den Sümpfen am finnischen Meerbusen hatte der Herrscher höchstselbst ausgesucht. Der Streifen zwischen Ladoga-See und Ostseeküste war erst von den Schweden erobert worden. Eilig wurde eine Festung errichtet, um die künftige Kapitale gegen die Angriffe zu schützen.

In diesem Sommer nun feierte Sankt Petersburg glamourös seinen 300. Geburtstag. Präsident Putin, ob seiner Machtfülle durchaus mit den Zaren vergleichbar, hatte in seine Heimatstadt geladen, um der Welt das ?neue? St. Petersburg zu zeigen: Der herausgeputzte Newski-Prospekt, renovierte Kirchen, vergoldete Dächer und das wiederhergestellte Bernsteinzimmer. Die Feierlichkeiten sollten den Blick nach vorne oder besser gen Westen richten.

Die Stadt hat sich im vergangenen Jahrhundert wie eine Schlange mehrmals gehäutet. Neue Namen kamen und gingen. Dabei geraten schon einmal die Anfänge aus dem Blick, die Zeit, in der St. Petersburg das Laboratorium der Moderne war. Rechtzeitig zum 300. Geburtstag ist das Buch Karl Schlögels in einer zweiten, unveränderten Auflage erschienen. In seinem Vorwort datiert Schlögel das ?Comeback?, den Wiedereintritt St. Petersburgs in die Riege der großen Städte der Welt, auf das Jahr 1991. Damals erhielt sie nicht nur ihren alten Namen zurück. Es waren auch die Tage, an denen hunderttausende Bürger gegen die Putschisten in Moskau und ihre neu empfangene Souveränität eindrucksvoll demonstrierten. Als ?Fenster nach Europa? ist die Stadt immer noch dabei, sich selbst zu finden. Mit schön restaurierten Gebäuden und teuren Hotels für die zahlungskräftigen Touristen aus dem Westen ist das allein nicht getan.

Schlögels Buch beschreibt ein Jahrzehnt, in dem St. Petersburg und Russland in einen Strudel von Veränderungen gerissen wurde. Und es ist eines der besten. In den Jahren zwischen 1909 und 1921 hat die Stadt das ganze Kaleidoskop von Erfahrungen gemacht, das vorstellbar ist: wirtschaftlicher Aufschwung, ungeahnte Blüte der Künste, Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnot, Zerfall des zaristischen Machtapparats. Schlögel macht sich auf die Spuren jener Männer und Frauen, die am Rand Europas in Musik, Theater, Malerei oder Architektur ihren eigenen Aufbruch in die Moderne versuchten, bevor der Bolschewismus diesem Weg nach Westen einen abrupten und unwiderruflichen Halt verordnete. Exemplarisch für die enge Verzahnung mit der Kultur des Westens steht der Dirigent Sergei Kussewitzki. Er war für die russische Wiederentdeckung Beethovens verantwortlich, er spielte 1914 erstmals in einem Programm Bach. Er veranstaltete Volkskonzerte und öffnete die bis dahin elitären Konzerte für die Bevölkerung. Mit seinen Tourneen durch die Provinz beendete er dort eine Zeit der Stille und traf ein begeistertes Publikum. Kussewitzki wollte kein Publikum mit ?Herrengesicht?.

Um 1900 hatte Petersburg den Kokon, die Residenz des Zaren zu sein, abgestreift. Es brodelte an der Oberfläche, die Kräfte der Moderne drängten nach oben. Auch die Zeitgenossen sahen dies mit Skepsis. Die Moderne nahmen sie vor allem als Bedrohung des historischen Erbes wahr. Ein beispielloser Bauboom veränderte die Stadt grundlegend. Neue Mietskasernen, Hafenanlagen, Hotels, Banken entstanden. Und über allem thronte der Newski-Prospekt. Auf ihm verdichtete sich die Stadt. Ein Kosmos der Menschen und Waren auf wenigen Kilometern. Gogol schrieb: ?Kein Adreßbuch und keine Auskunftsstelle liefern so zuverlässige Nachrichten wie der Nevskij-Prospekt.? Und Nietzsche bemerkte, wer wissen wolle, wie es um Europa stehe, der müsse nach St. Petersburg blicken. Von dieser Rolle ist Petersburg noch ein gutes Stück entfernt. Der Weg zurück nach Europa ist lang.

(Steffen Lehmann)

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