Neue polnische Dokumentarfilme beim 46. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (Lina Dinkla)

Neue polnische Dokumentarfilme beim 46. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

Freitag, 17.10.2003, 20.00 Uhr, Polnisches InstitutDie 89er Generation
Polen 2002
58 min
Regie: Maria Zmarz-Koczanowicz Geheime Bänder
Polen 2002
34 min
Regie: Piotr Morawski Was machst du als nächstes, Karolinka?
Polen 2002
42 min
Regie: Karolina Bendera Nachtgespräche
Polen 2003
31 min
Regie: Hanna Sawka Polen
Polen 2002
30 min
Regie: Borys Lankosz
Die fünf polnischen Dokumentarfilme, die im kleinen Saal im Polnischen Institut Leipzig gezeigt wurden, stellen eine Auswahl von Filmen dar, die in ihrer formalen wie inhaltlichen Verschiedenheit die differenzierte Lage des Landes wiederspiegeln. Zwei dieser Filme stellen Auseinandersetzungen mit der jüngsten polnischen Geschichte dar, ein anderer begleitet ein junges Mädchen und lässt diese zu Wort kommen, ein weiterer nimmt die Taxifahrt zum Anlass, verschiedenste polnische Menschen in unverbindlicher Weise zu portraitieren und ein anderer zeigt einen Fotografen polnischer Persönlichkeiten bei der Arbeit.Die 89er Generation von Maria Zmarz-Koczanowicz ist einer der politischen Filme. Es geht um die Rekapitulation der Ereignisse in der Zeit von 1989 bis heute und es kommen die Protagonisten der „polnischen Wende“ zu Wort. Es wird Archivmaterial im Wechsel mit den aktuellen Interviewaufnahmen gezeigt, Konzertmitschnitte und alte Aufnahmen von Panzern, Polizei und Straßenkämpfen wechseln sich in schneller Folge ab. All das ist begleitet von lauter polnischer Punkmusik, die eine revolutionäre Aufbruchsstimmung hervorruft und den schnellen Wechsel der Aufnahmen rhythmisch begleitet.

Polens jüngste Geschichte wird in einer atmosphärisch dichten Weise aufgerollt. Den Autoren geht es offensichtlich nicht darum, ein abgeklärt sachliches Bild von der Situation wiederzugeben, sondern es sollen Emotionen hervorgerufen werden, was durch die Musik und die schnellen Schnitte gelingt. Dazu kommen die spannenden Berichte der Zeitzeugen, die, da sie alle aus dem akademischen Milieu stammen, in der Lage sind, ihre Erlebnisse fesselnd zu erzählen.

So spannend es ist, es ist eine ganze Menge Text, die zu verfolgen und zu verstehen dem Zuschauer abverlangt wird. Man muss hochaufmerksam sein, um alle Einzelheiten und Zusammenhänge mitzubekommen, und kann es doch nicht vermeiden, dass einiges aufgrund der Schnelligkeit und Dichte der Informationen vorbeirauscht. Das liegt zum anderen auch ganz profan daran, dass die Untertitel nicht so schnell gelesen und verarbeitet werden können. Ein weiteres Problem, das mir ganz persönlich aufgefallen ist, kommt hinzu: so nah Polen ist, so unbekannt ist doch gerade seine Geschichte der letzten zwanzig Jahre.

Es kommt spät zu der Auflösung, welche Rollen die Interviewten damals gespielt haben und was sie jetzt machen. Es zeigt sich, dass jetzt alle in irgendeiner Weise in akademischen, intellektuellen Berufen tätig sind: der eine ist Journalist, eine andere arbeitet als PR Managerin, ein Schriftsteller ist dabei, einer arbeitet heute im Innenministerium und ein weiterer ist Professor an der Uni Warschau.

Und sie alle haben einen äußerst differenzierten und reflektierenden Blick auf das, was zur Zeit der friedlichen Revolution passiert ist. So richtig zufrieden sind sie mit der gewonnenen Freiheit nicht. Drei der acht Porträtierten haben nach der Etablierung des neuen Regierungssystems Polen verlassen. Nachdem der Wandel geschafft war, sind sie als Reporter oder Fotografen in die Kriegsgebiete von Tschetschenien, Ex-Jugoslawien und Berg-Karabach gegangen: sie haben die Flucht ergriffen, in Gebiete, wo etwas wirklich Ernstes passiert. Wie sie selber sagen, haben sie die ?lähmende? Situation in Polen für eine Weile hinter sich lassen müssen, da sie mit ihrer Ungebrauchtheit nicht zurechtkamen.

Ein richtiges Ende hat diese filmische Bestandsaufnahme dann auch nicht. Wie es scheint haben sich zwar alle in dem neuen System eingerichtet und sind ohne allen Zweifel froh, ohne Repressalien arbeiten und leben zu dürfen. Und trotzdem bleibt ein nagender kritischer Beigeschmack, als können sie es immer noch nicht akzeptieren, dass der Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Polen so sang- und klanglos über die Bühne ging.

Piotr Morawski stellt in seinem Film Geheime Bänder die Gegenseite der engagierten Studenten dar. Es geht um diejenigen, die im Auftrag der Regierung in den sechziger und siebziger Jahren, Staatsfeinde gefilmt und fotografiert haben. Das damals entstandene Material ist nach dem Regierungswechsel fast vollständig vernichtet worden. Die Cutterin, die im Film zu Wort kommt, wundert sich demnach auch darüber, dass überhaupt etwas erhalten geblieben ist.

Und diese „Geheimen Bänder“ bekommen wir zu sehen. Konspirative Treffen der oppositionellen Gruppierungen; öffentliche, staatliche Veranstaltungen wie ein Erntefest in den Sechzigern. Ein grausames Bild, ganz ohne Ton: ein Mann protestiert gegen die Regierung mit Selbstverbrennung.

Fast aufschlussreicher als die Bilder und Filme, sind die Aussagen der „Täter“ von damals. Sie sprechen ohne Reue, ohne den Anflug von Selbstkritik. So erzählt der Regisseur in der anschließenden Diskussion, dass alle sehr bereitwillig an dem Film mitgearbeitet hätten, vor allem ein Offizier sei wohl ausgesprochen stolz gewesen, zu Wort kommen zu dürfen.

Und das ist das Interessante und Besondere: es wird verwiesen auf die Gesamtsituation in Polen nach 1989 bis heute. An den Strukturen scheint sich nicht viel verändert zu haben. Die Revolution endete mit einem Kompromiss, der dazu führte, dass die alten wie die neuen Machthaber zusammen die neue Regierung bildeten. Personen wie der hier gezeigte Kameramann, die Cutterin und der Offizier blieben in ihren Positionen, nur dass sie einen anderen Arbeitgeben bekamen. Eine Aufarbeitung, wie es in Deutschland mit der Stasi zumindest versucht wird, hat es in Polen offensichtlich nicht gegeben.

Ein ganz anderes, aber nicht weniger brisantes Thema wählte Karolina Bendera für ihren Film Was machst du als nächstes, Karolinka?. Im weiteren Sinne ließe sich auch diese Arbeit als „politisch“ bezeichnen, denn was hier gezeigt wird, ist das trostlose Leben einer 18jährigen im Ghetto einer polnischen Kleinstadt. Karolinka hat als Amateurschauspielerin eine Hauptrolle in einem Film gespielt, bei der die Regisseurin Bendera als Regieassistentin arbeitete. Bei den Dreharbeiten lernten die beiden sich kennen und haben stehen seither in Kontakt miteinander. Bendera kam so auch darauf, ihre Namensverwandte zum Inhalt eines eigenen Filmes zu machen und die Situation einer vom Leben Gezeichneten zu portraitieren.

Der Film hinterlässt insgesamt eine traurige Stimmung über die Ungerechtigkeit der Welt, jedoch zeigt er das Leben von Karolinka als nicht ausschließlich hoffnungslos. Denn diese trotzt den widrigen Umständen mit einem ungeheuren Willen, nicht in ein solch verkorkstes Leben wie ihre Mutter abzurutschen. Dieser Wille macht Mut und Hoffnung und lässt diese kleine starke Frau bewundernswert erscheinen.

Die Autorin Bendera wird im Film sichtbar, denn Karolinka spricht offen zur Kamera und die beiden unterhalten sich über Karolinkas Entscheidungen, wie die, wieder zur Schule gehen und einen Abschluss nachholen zu wollen. Und so sieht man die beiden zusammen im kleinen Zimmer sitzen und Englisch lernen. Karolinkas Fähigkeit sich und ihre Situation zu reflektieren und sehr offen zu analysieren, macht es äußerst spannend ihr zuzuhören und ihre Geschichte begreifen zu wollen.

Im Vergleich zu den Filmen, die einen sehr allgemeinen Blick von oben auf die Geschichte haben, verfolgt „Was machst du als nächstes Karolinka?“eine ganz andere Perspektive auf das Polen von heute, über die vielen Verlierer der Wende und die Randfiguren, die selten im Mittelpunkt des Interesses stehen.Nachtgespräche vermittelt wiederum eine durchweg positive, wenngleich unverbindliche Grundstimmung. Der Film zeigt zwei Taxifahrer während einer Nachtschicht von 20 Uhr abends bis 5 Uhr morgens. Es passiert nichts Außergewöhnliches, Fahrgäste steigen ein, steigen wieder aus, erzählen aus ihrem Leben oder schweigen. Die Gesprächsausschnitte sind unzusammenhängend, aber nicht verwirrend montiert und geben kurze Ahnungen davon wieder, wie die Lebenshintergründe der Fahrgäste aussehen. Gleichzeitig werden auch die Taxifahrer befragt, was die Situation dann doch besonders macht, denn normalerweise sind sie die Kurzzeitpsychologen, die ihren Fahrgästen zuhören, selbst aber nicht zum Erzählen kommen. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei Einstellungen von Uhren durch den Film, die sich im Stadtbild finden lassen und Auskunft darüber geben, dass die Erzählung chronologisch verläuft. Alles in allem bleibt Nachtgespräche eine etwas belanglose Videoarbeit, die keine größeren Eindrücke hinterlässt.

Auch Borys Lankosz portraitiert in seinem Film Polen. Und das auf zweifache Weise: er portraitiert den Portraitisten bei seiner Arbeit. Der Chronist Krzysztof Gieraltowski fotografiert berühmte Polen und in diesem Film wird er dabei beobachtet, wie er Berühmtheiten Krakaus fotografiert. Die Schriftsteller Stanislaw Lem und Wislawa Szymborska und der Komponist Krzysztof Penderecki sind die „Opfer“. Denn der Film erhält seinen Witz dadurch, dass das Gespräch zwischen Portraitist und Portraitierten ein ums andere Mal so gar nicht in Gang kommen will. Gieraltowskis übermäßige Bemühungen, durch kleine Witzchen und Geplappere seine Gäste bei Laune zu halten und eine lockere Stimmung aufkommen zu lassen, wird von den Berühmtheiten konsequent ignoriert und sie achten pingeligst auf die Minute genau darauf, das Foto – Shooting wieder verlassen zu dürfen.(Lina Dinkla)

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