Zwischen Tradition und Progression

Verschiedene Bands sind bei den 27. Leipziger Jazztagen vertreten

Das Konzept des Leipziger Jazzclubs, Veranstalter der Jazztage, ist überzeugend. Versucht wird innerhalb weniger Tage das weite Spektrum zeitgenössischer Improvisationsmusik an unterschiedlichen Veranstaltungsorten und zu allen Tages- und Nachtzeiten vorzustellen und sowohl Kenner als auch Gelegenheitshörer mit einem Programm anzusprechen, das mit jungen und noch unbekannten ebenso wie mit älteren, bereits etablierten Künstlern und Künstlerinnen aufwartet und die Bandbreite zwischen Tradition und Progression ausleuchtet.

Mit dem Koraspieler Soriba Kouyaté hatte man einen Musiker eingeladen, der es versteht, seine Musikkultur auf dialektische Weise mit anderen Musikkulturen zusammenzuführen und aus dieser Melange eine tanzbare Mixtur zu kreieren. Der Senegalese steht in der uralten Tradition der sogenannten Griots – westafrikanischer Geschichtenerzähler, die als fahrende Musiker umherziehen -, bezieht jedoch auch Jazz-, Blues-, Funk- und Rockeinflüsse in sein Spiel mit ein. Kouyaté bedient die 21-saitige „westafrikanische Harfe“ mit einer beeindruckenden Virtuosität. Mittels Tonabnehmern, Stimmwirbeln und elektronischem Equipment kann er dem von ihm umgebautem Instrument gitarrenähnliche Klänge entlocken, die er geschickt in das Gesamtgefüge seiner Band einzubringen weiß.

Die junge Band Olaf Ton zeigte pure Spielfreude. Die Berliner Jungs waren die Überraschung beim diesjährigen, bundesweit ausgeschriebenen Leipziger Jazz-Nachwuchsfestival gewesen. Auf der großen Bühne der Leipziger Oper überraschten sie nicht weniger. Unbeeindruckt vom gediegenen Ambiente des Hauses gaben sie sich betont lässig und zogen eine vitale Show ab. Das Publikum nahm die erfrischende Unbekümmertheit und Souveränität der Twenties mit Verwunderung auf, woraufhin die Band zum amtlichen Geheimtipp avancierte.

Neben dem Bandprojekt trance.ition des Leipziger Saxophonisten Andreas Grosskopf machte die norwegische Band Beady Belle um die Sängerin Beate S. Lech deutlich, dass sich alle Spielarten moderner Clubkultur spielerisch mit improvisierter Musik resp. Jazz koppeln lassen. Beide Bands verarbeiten mit unterschiedlicher Gewichtung Song-, Soul-, Pop-, Techno-, Ambient-, Hip-Hop-, Trance- und Funkstrukturen und kombinieren Handgemachtes mit Samples bzw. vorproduzierten Tracks.

Ein Schwerpunkt des diesjährigen Festivals war die freie Form der perkussiven Improvisation. Der Schlagzeuger Pierre Favre beispielsweise lotete gemeinsam mit dem Saxophonisten John Surman die Möglichkeiten des ungebundenen Duospiels aus. Leider blieb es weitestgehend bei längeren Passagen musikalischer Parallelität; zu selten ging man dialogisch aufeinander ein. Das ROVA Saxophone Quartet hatte sich auf Initiative der Veranstalter mit den Schlagzeugern Paul Lytton und Raymond Strid zusammengetan, um im Grenzbereich von Komposition und uneingeschränkter Improvisation eine gruppendynamische Musik entstehen zu lassen, die sich sehr stark an Neuer Musik orientierte. Der kompakte Sound des Quartetts, der in einem dreißigjährigen Reifeprozess entstehen konnte, fügte sich in die bewusst offen gehaltene Verzahnung der perkussiven Basis und verharrte dort wie ein Eisblock, der sich nach und nach verflüssigt. Die einzelnen Parameter veränderten sich nur unmerklich, dafür aber kontinuierlich, was eine merkwürdig bewegt-statische Musik zur Folge hatte.

Beide Schlagzeuger – Lytton und Strid – begaben sich zu einem anderen Zeitpunkt und in einer anderen Konstellation noch einmal auf eine Reise durch die endlosen Klangwelten des expandierenden Universums, diesmal mit Wolfgang Fuchs (Sopraninosaxophon, Bassklarinette) und Hans Schneider am Kontrabass. Die Premiere des Trios Raw Meet um den Gitarristen Elliott Sharp schied die Geister. Für die einen war Sharps extrovertierte Noise-Performance im bewussten Gegensatz zu den gebrochenen Funk- und Rockrhythmen seiner Begleiter eine Manifestation dekonstruktivistischer Avantgarde-Kultur, für die anderen anachronistische Provokation.

Ganz und gar im Mainstream schwammen Bassist Ron Carter mit seiner Gruppe Foursight und der Hammondorgler Jimmy Smith mit seiner Band. Während Carter die seinem Alter entsprechend dezente Art des Musizierens präferierte, ließ der ebenfalls betagte Smith den Saal schon mit der ersten Viertel in Flammen aufgehen. Obschon Carter vorführte, wie man den Kontrabass technisch-perfekt in Schwingungen versetzt, war das, was musikalisch unterm Strich dabei herauskam, nicht mehr und nicht weniger als edelster Bar-Jazz. Smith hingegen gab ein weiteres Mal eine Lektion in Sachen Entertainment, Gesamtkonzept und genialischer Musikalität. Niemand konnte sich seinem Charme und seiner Musik entziehen.

Die deutsche Kooperation von Christof Lauer und Jens Thomas stand unter dem Motto „Pure Joy“. Freude machte es eigentlich auch ihnen zuzuhören, nur vermisste man manchmal das nötige Quäntchen Risikobereitschaft. Aalglatt kam dieses Duo daher, mit netten Melodien und wohlklingenden Harmonien. Es fehlte die Reibungsfläche in dieser Musik, von der man sich mehr Spannung erhofft hatte.

Reibungsfläche produzierte das Trio Bobo Stenson / Petras Vysnikauskas / Klaus Kugel in der Reformierten Kirche zur Genüge. An dieser konnte es sich dann in einer einstündigen freien Improvisation abarbeiten. Die Ausgeglichenheit von musikalischer Spannung und Entspannung machte dieses Konzert zu einem emotionalen Wellness-Erlebnis. Einziges Manko war Stensons allzu pianistische Spielweise der Orgel.

Das Trio um die dänische Sängerin und Pianistin Susi Hyldgaard gab fragile Songs zum Thema „Home sweet Home“ zum besten. Das mit Emotionen und Befindlichkeiten überfrachtete Konzert verlangte einiges an Einfühlungsvermögen – nicht alle Zuhörer wollten so viel investieren. Die vielen Brüche im musikalischen Ablauf und die häufig wiederkehrenden Stimmungswechsel der Gesangsstimme minderten das Hörvergnügen.

Eine lange Nase spielte im Kinderkonzert eine entscheidende Rolle. „Pinocchios Abenteuer“ stand auf dem Plan, szenisch gelesen von Stefan Wilkening, musikalisch begleitet von einem Saxophon resp. Bassklarinette / Schlüsselfidel / Perkussion – Trio. Groß und Klein hatte dabei viel zu lachen, aber auch zu weinen, denn Pinocchio hat auf seiner Reise wahrhaft eine Menge skurriler Abenteuer erlebt.

Äußerst erlebnisreich für das Publikum geriet auch das Konzert des Orient House Ensembles um den Saxophonisten Gilad Atzmon. Das Ensemble spielte auf höchstem Niveau und verband interkulturelle Stilistiken mit politischen Aussagen. Die teils jüdisch, teils arabisch-palästinensische Provenienz der Musiker schlug sich in vielen musikalischen Zitaten nieder. Solistische Virtuosität und kammermusikalisches Feingefühl standen im Programm des Ensembles ebenso gleichberechtigt nebeneinander wie überschwängliche Volksweisen und traurige Klagelieder…

Es bleiben viele, viele Eindrücke von den 27. Leipziger Jazztagen. Vor allem aber die Erkenntnis, dass sich Tradition und Progression im Bereich improvisierter Musik nicht ausschließen, sondern gegenseitig befruchten; und sei es allein schon dadurch, dass man sie im Rahmen eines Festivals zusammenführt.

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