Künstlerfilme und sowjetische Filmschätze

„Peter Schamoni – Filmstücke“ und „Blick/Gegenblick“: Die Retrospektiven des 46. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm

„Max Ernst: Mein Vagabundieren – Meine Unruhe“

Zunächst schien es zweifelhaft, ob sich zwei Retrospektiven nicht all zu sehr konkurrieren würden nebst einem reichhaltigen Wettbewerbs- und Programmteil. Die in sich geschlossenen und ausgefeilten Konzepte schufen aber entgegen dieser Befürchtung eine überzeugende Gesamtkomposition, deren Zusammenhalt auf eine prägende Persönlichkeit verweist: den scheidenden Festivaldirektor Fred Gehler. Mit dieser Auswahl schien er persönlich Abschied nehmen zu wollen von knapp zehnjähriger Festivalleitung. Ohnehin hinterlässt er seiner weiterhin ungeklärten Nachfolge hohe Maßstäbe, an der sie sich messen lassen muss. Gehler knüpfte durch seinen Leipziger Wohnsitz die Festivalarbeit wie kein anderer zuvor an diese Stadt und trug dadurch maßgeblich dazu bei, ihren Weg als ein mögliches Zentrum des Films zu ebnen. Auch wird die Nachfolge intensiv daran arbeiten müssen, so erfolgreich wie Gehler das beachtliche internationale Renommee zu erhalten.

„Peter Schamoni – Filmstücke“

Mit der Hommage Peter Schamoni – Filmstücke wird ein deutscher Filmemacher, primär als Dokumentarfilmer, geehrt, der fraglos zu den bedeutendsten seiner Generation gehört. Dieses Geschenk, geschmückt mit der Goldenen Taube für sein Lebenswerk, am Ende der Ära Gehler scheint ein Geständnis der innigen Verehrung an die Filmkunst Schamonis zu sein. In den einführenden Worten sprach Gehler wie von einem magischen Moment, als er im Jahre 1989 mit Schamonis Filmen in Berührung kam und sich fesseln ließ. Damals war es der dokumentarische Kurzfilm Max Ernst: Maximiliana – die widerrechtliche Ausübung der Astronomie, der nun diesmal innerhalb der Hommage den Kurzfilmpart eröffnete. Er dokumentiert in kunstvoller Montage das grafische Werk Maximiliana, in dem sich der große deutsche Maler Max Ernst mit der Astronomie und Lithographie Ernst Wilhelm Leberecht Tempels (1821-1889) beschäftigte. Ernsts Mitarbeit an dem Film durch Interview und integrierte Zeichnung hat somit ein fast kongeniales Dreigespann der Kunst entworfen: der von Tempel, von Ernst und von Schamoni. Kein Zweifel bleibt, wer der eigentliche Star ist: Der Einblick in die gesprochenen wie gezeichneten Reflexionen Max Ernsts deutet auf ein noch weit tiefer zu entdeckendes Universum, das Schamoni später verfolgt hat.

Der Film schien ein Exempel setzen zu wollen gegen Tempels Ausspruch: „Die Kunst des Sehens ist im Begriff verloren zu gehen, als Folge der Erfindung aller möglichen optischen Geräte.“ Dieser Entwicklung gegenzusteuern verpflichtete sich der 1934 geborene Peter Schamoni vier Jahre zuvor mit der Unterzeichnung des legendären Oberhausener Manifests von 1962. Darin propagierte mit ihm eine Gruppe junger Filmemacher die Abkehr von den Abenteuer- und Sissi-Filmen der biederen Republik und wollte die (finanziell) geschlossene Gesellschaft der westdeutschen Filmbranche aufbrechen. („Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“) Bereits als 23jähriger hat Schamoni seine „Kunst des Sehens“ bewiesen mit dem Kurzfilm Moskau 57, in dem er heimlich mit einer Schmalfilm-Kamera seine Impressionen während eines Besuchs in der sowjetischen Metropole festhielt und mit Dixieland-Musik untermalte. Die naiv wirkenden Blicke auf die imposante Architektur genauso wie in die Gesichter fröhlicher Moskauer entwerfen ein subversiv verträumtes Bild, das die sowjetische Propaganda von Macht und Stärke mit einem Lächeln verzerrt.

Ironie im Kurzfilm

Auch Schamonis andere Kurzfilme eröffneten neue Einblicke: In Brutalität in Stein (1960) erforschten er und Alexander Kluge den ästhetischen Beitrag der Architektur an der Barbarei des Nationalsozialismus anhand von Bildern des noch immer schillernden Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg; diese synchronisierten sie mit den Tondokumenten der in Stein verewigten Hasstiraden. Osterspaziergang entwickelt sein urkomisch ironisches Spannungsverhältnis aus dem im Off gesprochenen Goethe-Text und den dazu konträren zeitgenössischen Bildern bierseliger Jahrmarktstimmung an einem Feiertag anno 1959. Bodega Bohemia ist eine zärtliche Hommage an alle kleinen Träumer mit großen Leidenschaften. In einem spanischen Lokal ahmen jung gebliebene Senioren voller Inbrunst ihre Vorbilder nach: die bezaubernde Opernsängerin, die verführerische Chansonette, den mutigen Torero. Schamoni lässt hinter diese grotesken Darstellungen ins Innere der Protagonisten blicken, wenn er im Moment ihrer Ekstase die Idole selbst einblendet – im Opernhaus und der Arena – und somit die kleine Bühne des morbiden Lokals in jene Bretter verwandelt, die die Welt bedeuten. Die Teutonen kommen drehte Schamoni 1962. Vierzig Jahre später ist dieselbe spöttische Ironie von Nöten, wenn die „Teutonen“ noch immer so plump die spanischen Küsten erobern. Auch hier oder in Im Zwinger – Dresden 1964 wird Schamonis Spott nie menschenverachtend, bleibt aber dennoch ein bestechendes Mittel der Subversion und Verteidigung gegen verkrustete und dogmatische Strukturen. Der Film über die Gemäldegalerie beobachtet ihr Schicksal anhand der staunenden, wundernden und urteilenden Besucher. Mag der Film damals vor allem die ideologisch überfrachteten Deutungen der Museumsführer fokussiert haben wollen, wirkt er heute wie ein zeitloses Dokument der Kunstbetrachtung – befreit von Stereotypen. Die rasanten Szenen der wechselseitigen Blicke zwischen Objekt und den Gesichtern der Beobachter sind ein spannendes Beispiel für Schamonis Nähe zum Kunstwerk und Schaffung neuer Freiräume.

Filmstar Wilhelm II.

Seine abendfüllenden Dokumentarfilme, die sich ausschließlich Künstlern widmen, waren es denn auch, mit denen Schamoni größte Anerkennung erntete. Wobei sein jüngster Film, Majestät brauchen Sonne, insofern als Künstlerportrait zu verstehen ist, als dass sein Protagonist, Kaiser Wilhelm II., dank zahlreicher Experimente mit dem neuen Medium beweglicher Bilder sozusagen der erste deutsche Filmstar war. Fred Gehler brachte den Film am Eröffnungsabend des Dok-Festivals 1999 zur Aufführung (im Gewandhaus), was mitunter für scharfe Kritik sorgte. Gehler bewies damit bereits damals seine Anerkennung für Schamoni; und Schamoni bewies, dass ein heutiges Portrait über den umstrittenen Kaiser keineswegs die Anrüchigkeit von wiedererwachendem Nationalismus oder dergleichen haben muss. Der Film ist ein beeindruckender Einblick in die Psyche und Persönlichkeit des Kaisers, riskiert aber zugleich, die politischen Dimensionen weniger auszuloten. So wird Wilhelms Rolle während und im Vorfeld des Ersten Weltkriegs auf eine eher passive reduziert. Die Erzählperspektive lässt aber auch vermuten, dass dadurch die eigene Interpretation Wilhelms sichtbar werden soll. Dennoch ist das sorgfältig zusammengetragene Archivmaterial, das beinahe den kompletten Film ausmacht, eine sagenhafte Entdeckung, das den Kaiser nicht nur bei Staatsakten zeigt, sondern auch bei seiner Lieblingsbeschäftigung: dem Reisen, z.B. auf seiner Yacht „Hohenzollern“, die ihn bis nach Korfu und Norwegen führte. Einmalig ist das Stummfilmmaterial auch, weil es in seiner Experimentierphase noch keiner propagandistischen Nutzbarmachung unterworfen war, und auch der Würde eines Staatsoberhauptes weniger zuträgliche Momente dokumentiert. Illustriert und abgerundet wird dieses Amüsement mit für die damalige Zeit entsprechender Marsch-, Fest- und Opernmusik, Tagebucheinträgen gelesen von Otto Sander und der Erzählerstimme Mario Adorfs.

Niki de Saint Phalle und Caspar David Friedrich“Indem Schamoni den Traum von André Malraux‘ ‚imaginärem Museum der fotografischen Reproduktion‘ mit eigener Filmästhetik realisierte, schuf er den deutschen Prototyp des Films sur l’art.“ postulierte Hilmar Hoffmann. Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely: Wer ist das Monster ? du oder ich? (1994) steht ebenfalls für diesen Prototyp. Der Film über das Künstlerpaar ist ein Feuerwerk der optischen Reize. Die Protagonisten könnten einem Dokumentarfilm nicht dienlicher sein: Ihre Kunst ist bunt, drastisch und in quirliger Bewegung, genau wie ihre Selbstdarstellung. Niki de Saint Phalles Karriere begann als Model, führte über schockierende und brutale Aktionskunst zu den berühmten mütterlichen, runden Nana-Figuren und hinterlässt ein umfangreiches experimentelles Filmmaterial, auf das Schamoni zurückgreifen konnte. Tinguely war ein Meister genauso sinnloser wie effektvoller „Monstermaschinen“. Zusammen ergänzten und inspirierten sie sich: er machte ihre Kunst beweglich, sie attackierte seine als die Verkörperung des bösen Männlichen und dankte ihm, dadurch den Widerpart für ihr Werk des friedlichen, guten Weiblichen zu liefern. Hundertwassers Regentag (1972) spürt in halb so kurzer Zeit Friedensreichs wundersame Formen- und Farbenwelt auf und erreicht dabei denselben mäandernden Erzählfluss, den sein träumerisches Werk durchzieht. Caspar David Friedrich – Grenzen der Zeit (1986) ist ebenso davon geprägt, das Werk selbst zu fokussieren, direkt in das Gemälde zu blicken und die Ideen des Künstlers zu verstehen. Anders ist dieses Portrait bereits deshalb, weil der Protagonist lange vor der Erfindung des Films und der Fotografie gelebt hatte. Stattdessen belebt die Kamera Gerard Vandenbergs die Quellen für Friedrichs Inspiration mit bewegenden Naturaufnahmen, und Schamoni suchte Abhilfe in nachgestellten Spielszenen, die in Zusammenarbeit mit der DEFA an Originalschauplätzen und Schauspielern aus beiden deutschen Staaten entstanden. Diese Szenen widmen sich vorwiegend der erheblichen Kritik, der Friedrich und die Romantiker ausgesetzt waren, was zwar für das Verständnis des Werks und vor allem kunsthistorisch bedeutsam ist, jedoch den Fluss des Films und das Schwelgen im Werk erschwert. Schamoni selbst glänzt übrigens in der Richter-Rolle als einer der vehementesten Gegner des Malers.

Opus Magnum: Max Ernst

An die Tradition der Romantik knüpfte auch Max Ernst (1891-1976) an, der in Deutschland bis heute nur dürftig ins kulturelle Bewusstsein zurückgefunden hat. Schamoni durfte als junger Student an der Filmhochschule in Paris den Ausnahmekünstler persönlich kennen lernen und hielt mit ihm über Jahre hinweg Kontakt. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod, zum Anlass seines 100. Geburtstags, würdigt ihn Schamoni mit einem Portrait, das bis heute als sein Opus Magnum gilt: Max Ernst: Mein Vagabundieren – Meine Unruhe. In einhundert kompakten Minuten gibt er sich der ganzen Fülle und Reichhaltigkeit des stetig revolutionierenden Werks hin und der überwältigenden Suggestivkraft dieser Persönlichkeit. Die Lebensreise beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, an dem Ernst als Artillerist teilnahm. Er zitiert sich selbst (immer in einem Nebeneinander von Englisch, Deutsch und Französisch, was die Bedeutung und Möglichkeiten seiner Dreisprachigkeit erahnen lässt): „Max Ernst starb am 1. August 1914. Er kehrte zum Leben zurück am 11. November 1918 als junger Mann, der ein Magier werden wollte, um den Mythos seiner Zeit zu finden.“ Diesen fand er schon früh im Dadaismus seiner Kölner Jahre, später im Pariser Exil als Mittelpunkt der Surrealisten, dann in der französischen Provence, nach erneuter Flucht in New York, im indianischen Arizona und zurückgekehrt noch einmal in Frankreich. Schamoni entfaltet die Inspirationsquellen und Rahmenbedingungen von neuem, stellt sich komplexen Beziehungsgeflechten zu Freunden und Bekannten, die sich wie ein Who’s who der Kunstgeschichte lesen, entwickelt in sagenhafter Montage ein großformatiges Film-Gemälde anhand von Interviews, Zeichnungen, Ölbildern, Filmszenen des Künstlers in Aktion und Spielfilmmaterial, Fotos und animierten Fotoserien, Überblendungen zu atemberaubenden Landschaftsaufnahmen des Kameramanns Ernst Hirschs teilweise in erregender Zeitraffer, anhand von nachgestellten Szenen voller Witz und Charme und der explosiven Wucht der Musik Stravinskys, eine der vielen Leidenschaften des überdies philosophisch und literarisch bewanderten Genies Max Ernst. Der Film ist ein Meisterwerk und spannender als viele Spielfilme es sind, er ist voller Raffinesse und folgt doch einer einfachen Idee – wie alle Künstlerportraits Schamonis: Statt subjektiver Interpretation steht im Mittelpunkt das Verstehen des Schöpfers selbst, des Künstlers, des Menschen – des Anderen. Die individuelle Wahrnehmung reicht Schamoni weiter an unsere eigene Verantwortlichkeit. Hören und Sehen wir für einen Moment, was dieser Andere uns sagt. Max Ernst: „Un peintre, qui s’est trouvé est perdu.“ – Ein Maler, der sich gefunden hat, ist verloren.

„Blick/Gegenblick“

Filmschätze, die zum Teil niemals zuvor außerhalb der ehemaligen Sowjetunion gezeigt wurden, falls sie nicht ohnehin bald nach ihrer Uraufführung vor bis zu achtzig Jahren in den Archiven verschwanden, das machte den ungeheuren Reiz dieser bisher einmaligen Retrospektive aus, die in Kooperation des Dok-Festivals mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv entstand. Insgesamt 64 sowjetische und deutsche (SBZ/DDR) Dokumentarfilme aus den frühen 1920er Jahren bis in die späten 80er kamen zur Aufführung, die das je andere Land in der Spannung von Blick und Gegenblick beäugen, aber auch neue Dimensionen des Blicks/Gegenblicks zwischen dem Zuschauer und der Leinwand entfachen. Es sind Filme, die eine Geschichte von Utopien, Visionen und Manipulationen erzählen, vor allem aber sind es Filme so unterschiedlich wie auch voller Widersprüche. Stellvertretend sei der nur scheinbar stringent propagandistische Film Zu einem neuen Deutschland genannt, eine deutsch-sowjetische Gemeinschaftsproduktion von 1947. Obwohl er primär bestimmt scheint für die Ermunterung zur Aufbauarbeit in der Nachkriegszeit durch Themen wie Entnazifizierung oder Bodenreform, bricht zugleich eine unverstellte Sicht herein, die in der späteren DDR weitgehend tabuisiert war: Noch wird die Deutsche Einheit als erklärtes Ziel der Nachkriegspolitik propagiert, wird unverblümt von der Sprengung zehntausender Rüstungsbetriebe durch die Rote Armee berichtet anstatt von ihrer Umstellung auf Friedensproduktion, werden Persönlichkeiten wie Walter Ulbricht ebenso wie Dwight D. Eisenhower oder Kurt Schumacher präsentiert, und Leipzig, Rostock, Torgau oder Plauen sind Orte der Berichterstattung trotz des traditionellen Berlinzentrismus. (Vgl. Björn Seidel-Dreffke und andere in der empfehlenswerten Broschüre zur Retrospektive!)

Der Mann mit der Montage – Dsiga Vertov

Unverkennbar trägt auch Blick/Gegenblick die Handschrift ihres Festivaldirektors. Einstmals angeregt durch die Retrospektive über den „unbekannten“ sowjetischen Spielfilm auf dem Filmfestival in Locarno, entsprang Gehler die Idee eines Pendants für den Dokumentarfilm. Dabei konnte er an weitreichende persönliche Erfahrungen anknüpfen. Reflexionen über den sowjetischen Film drückte Gehler bereits zusammen mit Ulrich Kasten in eigenen Dokumentarfilmen aus, die auch hier nicht fehlen durften: Zum einen die Fernsehproduktion Panzerkreuzer Potemkin in Berlin (1986), mit der Gehler die legendäre Rezeption Eisensteins Filmklassikers in Berlin und anderen deutschen Städten aufspürte. Nachdem dieser Film von 1925 zunächst mit Schnittauflagen und anderen Querelen zu kämpfen hatte, löste er frenetische Begeisterungsstürme aus, und manche glaubten sogar, die Revolution sei damit ausgebrochen. Ein spannender und mehr theoretischer Annährungsversuch an die Ideen und Methoden eines berühmten Dokumentarfilmers – und in mancher Hinsicht Vorläufers Eisensteins – ist Dsiga Vertov – Das Filmauge. Die Kunst der kühnen Gärtner (1976), der im Mittelpunkt Vertovs Der Mann mit der Kamera (1929) analysiert. Darin begibt sich ein Kameramann, selbst thematisierend, in das ungestellte Alltagsleben, ganz nach Vertovs postuliertem Filmaugenkonzept radikaler Antifiktionalität. Dort entdeckt er die Welt neu – auf der Suche nach einer originär filmspezifischen Sprache. In der Überzeugung auf eine linguistische Entschlüsselung der Welt sagt Vertov: „Ich bin ein Filmschriftsteller, ein Filmdichter, […] ich schreibe nicht auf Papier, sondern auf Zelluloid.“ In bahnbrechender Ästhetik, unpropagandistisch, analytisch und selbstkritisch, suchte er eine neue Weltsicht, die das Unsichtbare sichtbar mache und das Verborgene hervorhebe. Eine lakonische, beiläufige Szene: die rückwärts verlaufende Häutung eines Ochsen, der wieder zum Leben erweckt wird. Die Montage eröffnete neue Sinnzusammenhänge: das Feilen der Finger verknüpft mit dem Schneiden des Filmstreifens, das Schärfen der Rasierklinge mit dem der Axt. Diese Verknüpfung „nach dem Sinn des visuell Gezeigten“ , so Vertov, habe ein organisch geschlossenes Ganzes entworfen, so dass der Film sogar ohne Zwischentitel auskam. Hans Richter bescheinigte dem Film Erfolg: „Auf dieser rhythmisch-musikalischen Grundlage entstand der erste reine Filmstil, eben die Montage.“

Exkursionen – Tschetschenien, Persien, Swanetien

Seltenheitswert hat eine Reihe sowjetischer Filme, die als Exkursionsfilme den Blick in die abgelegene Welt richten und sich somit den Konventionen im eigenen Lande entzogen. Der Nachwelt retteten sie einmalige Aufnahmen: Persien. Das Land des Löwen und der Sonne (1933-35) von Vladimir Erofeev, Das Salz Swanetiens (1930) von Michail Kalatosov und Im Lande Nach?o. Tschetschenien (1928/29) von Nikolaj Lebedev. Letzterer beginnt mit der verblüffenden Szene eines klischeehaft als Barbar demonstrierten Tschetschenen, so wie ihn bis vor kurzem noch das russische Zarenreich sah, um sich dann in aller Ausführlichkeit dem tatsächlichen Leben und seiner Kultur zu nähern. Alle drei Filme machen dies mit überraschendem Einfühlungsvermögen und nehmen sich viel Zeit dafür. Sie sind induktiv auf den Motiven des Alltagslebens und seiner Sorgen basierend. Umso befremdlicher wirkt daher in allen drei Filmen das Ende, in dem ein prophetisches Lob für die sozialistische Revolution ausgerufen wird und die fanatische Hoffnung auf die vereinte, egalitäre Sowjetunion. Diese konsequent konstruierte Folge als Erlösung von den Problemen, wie z.B. der sozialistisch ermöglichte Straßenbau in Swanetien, der die Region endlich aus der Salznot führt, ist im historischen Kontext betrachtet aber durchaus plausibel. Der bedingungslose Glaube an den Sozialismus/Kommunismus war (noch) absolut authentisch. Und so ist auch die Darstellung der Arbeit weniger stilisiert und affektiert als in späteren Propagandabildern (wie etwa eine freudestrahlende Fließbandarbeiterin mit der erhobenen Faust), sondern wirkt ursprünglich, archaisch, rein und im Beispiel des Teheraner Kunsthandwerkers filigran verspielt und darin vielmehr schön als erhaben. Es sind Filme, die wie letzte Zeitzeugen Kulturen archiviert haben, auf die man sich heute nach oftmals verlorener Identität rückbesinnt.

Erofeev – hinter deutscher glücklicher Fassade

Erofeev drehte mit Zum glücklichen Hafen. Ein Film über den Westen (1929/30) auch einen der erstaunlichsten Dokumentarfilme seiner Zeit über das Deutschland hinter der Fassade eines „glücklichen Hafens“, den die Touristen erblickten, und hinter den Phrasen „sozialdemokratischen Versöhnlertums“. Er entpuppt die verborgene Wirklichkeit eines Deutschlands, das in Weltwirtschaftskrise und Faschismus abgleitet. (Vgl. Schlegel in o.g. Broschüre) Zudem setzte er auch filmästhetisch neue Akzente, so dass Erofeev gewiss zu denjenigen gehört, denen man sich künftig in der Filmforschung weitaus mehr widmen muss. Ein Fazit des Symposiums zur Retrospektive lautet daher auch: Die Dokumentarfilmgeschichte muss differenzierter, wenn nicht gar neu geschrieben werden, vor allem die Geschichte der Rezeption, sowohl für die Inhalte wie für die Ikonographie. Hans-Joachim Schlegel, der neben Gehler die prägende Figur der Retrospektive darstellt, traf die Textauswahl und war Übersetzer einer weiteren besonders empfehlenswerten Broschüre, die zu diesem Anlass erschien: Die überrumpelte Wirklichkeit. Texte zum sowjetischen Dokumentarfilm der 20er und frühen 30er Jahre (Leipzig 2003) mit Schriften von Vertov, Erofeev und vielen mehr.

Zeitlos – Herz Frank, Juris Podnieks, Michail Romm

Legendär und immer wieder faszinierend waren auch jüngere Filme. Zum Beispiel der Kurzfilm Zehn Minuten älter (1978) von Herz Frank, der Kindern während eines Puppenspiels in die Gesichter schaut und dann bei dem eines Jungen verweilt. Darin spiegeln sich die Extreme von Ängsten und Freuden wieder, die ein Mensch in seinem Leben erfährt. (Vgl. Rezension vom 19.10.2003 zum Dok-Progammfilm Flashback (2002), in dem Herz Frank biographisch an diesen Film und seine Grenzsituation anknüpft. Auch aktuelle Filmprojekte wie Ten Minutes Older – The Cello oder – The Trumpet sind diesem Kurzfilmklassiker gewidmet.) Berührend und beeindruckend bleibt wohl auch stets Juris Podnieks‘ dokumentarischer Schlüssel- und Auftaktfilm des „Glasnost“-Prozesses Ist es leicht, jung zu sein?von 1986, der eine Jugend dokumentiert, die es offiziell nur im Westen gegeben hat: gezeichnet von Perspektivlosigkeit, Drogen- und Gewaltproblemen, Ängsten und allem anderen als Geradlinigkeit. Und genial wird auch in Zukunft Michail Romms Dokumentarfilmklassiker Der gewöhnliche Faschismus (1965) bleiben, eine scharfe, mitunter satirische und überaus spannende Analyse des deutschen Faschismus, der die Strukturen derart radikal enttarnt, dass man die Parallelen in anderen Orten und Zeiten fortan nicht mehr übersehen kann. Kein Wunder, dass die sowjetische Führung diesen Film alsbald im Archiv vergrub. Nun feiern Filme wie dieser ihre Auferstehung – sofern man sie lässt.

Retrospektiven des 46. Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm:

Peter Schamoni – Filmstücke

Max Ernst: Maximiliana – Die widerrechtliche Ausübung der Astronomie, D, 1966, 12 min.
Moskau 57, D, 1957, 11 min.
Brutalität in Stein, D, 1960, 12 min.
Osterspaziergang, D, 1959, 12 min.
Bodega Bohemia, D, 1961, 13 min.
Die Teutonen kommen, D, 1962, 13 min.
Im Zwinger – Dresden 1964, D, 1964, 13 min.
Majestät brauchen Sonne, D, 1999, 105 min.
Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely: Wer ist das Monster ? du oder ich?, D, 1994, 93 min.
Hundertwassers Regentag, D, 1972, 45 min.
Caspar David Friedrich – Grenzen der Zeit, D, 1986
Max Ernst: Mein Vagabundieren – Meine Unruhe, D, 1991, 100 min.

Blick/Gegenblick

Zu einem neuen Deutschland, V. Malyšev, Hans Klering, SBZ/Sowjetunion, 1947, 55 min.
Panzerkreuzer Potemkin in Berlin, Ulrich Kasten, DDR, 1986, 45 min.
Dsiga Vertov – Das Filmauge. Die Kunst der kühnen Gärtner, Ulrich Kasten, DDR, 1976, 45 min.
Der Mann mit der Kamera, Dsiga Vertov, Sowjetunion, 1929, 88 min.
Persien. Das Land des Löwen und der Sonne, Vladimir Erofeev, Sowjetunion, 1933-35, 50 min.
Das Salz Swanetiens, Michail Kalatosov, Sowjetunion, 1930, 48 min.
Im Lande Nach?o. Tschetschenien, Nikolaj Lebedev, Sowjetunion, 1928/29, 48 min.
Zum glücklichen Hafen. Ein Film über den Westen, Vladimir Erofeev, Sowjetunion, 1929/30, 64 min.
Zehn Minuten älter, Herz Frank, Sowjetunion, 1978, 10 min.
Ist es leicht, jung zu sein?, Juris Podnieks, J. Margolins, Abrams Kleckins, Sowjetunion, 1986, 84 min.
Der gewöhnliche Faschismus, Michail Romm, Sowjetunion, 1965, 132 min

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