Am Puls der Zeit

Ein Reisebrief: 15.-22. Oktober, NYYD ’03, Internationales Festival für Neue Musik, Tallinn

Acht Tage lang ist Tallinn ein Mittelpunkt der zeitgenössischen Musikwelt.
Estland und die Neue Musik – welche estnischen Komponisten zeitgenössischer Musik kennt man momentan in der Welt am besten? Ohne Zweifel Arvo Pärt, dann Erkki-Sven Tüür und Lepo Sumera, dann vielleicht noch Eino Tamberg, Jaan Rääts, Raimo Kangro. Die junge Generation präsentiert sich mit Helena Tulve, Toivo Tulev, Tonu Korvits, Jüri Reinvere, Maria Vihmand und vielen anderen mehr. Man kann sie kaum alle aufzählen, den bzw. die eine(n) zu nennen, heißt, den (die) andere(n) zu vergessen.

Auf den Punkt gebracht: Estland ist ein kleines Land mit einer großen musikalischen Tradition. Estland ist ein europäisches Land, dabei eine Schnittstelle unterschiedlicher Kulturen. Der Ostseeraum als Kulturraum verdient in seiner sowohl geschichtlichen als auch gegenwärtigen Vielfältigkeit sehr hohe Aufmerksamkeit.

Die zeitgenössische Musik ist nach wie vor ein ungemein vielfarbiges, schillerndes Kaleidoskop. Dies zu zeigen, ist das NYYD-Festival („nüüd“ bedeutet jetzt) vor über zehn Jahren (seit 1991) entstanden, erwachsen aus unterschiedlichen Festivals für zeitgenössische Musik, die in Estland auch schon zuvor ein wesentlicher Bestandteil des Musiklebens waren. Das wichtigste unter ihnen sind die Estnischen Musiktage (Eesti Muusika Päevad, seit 1979).

Das NYYD-Festival präsentiert zeitgenössische Musik aus aller Welt gemeinsam mit der neuesten estnischen Musik und bietet ein Forum für Begegnungen zwischen Weltklasse-Ensembles und estnischen Interpreten, zwischen weltbekannten Komponisten und der jungen estnischen Komponistengarde. Dabei ist einer der drei Haupt-Organisatoren des Festivals, Erkki-Sven Tüür, selbst ein Komponist mit Weltgeltung.

Das diesjährige Festival ist erst das achte seiner Art. Das mag verwundern, aber auch ein zweijähriger Rhythmus hat sein Positives – vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, vielleicht auch aus organisatorischen Gründen, nicht zuletzt aber ist die Festival-Landschaft in Estland so ungemein dicht, dass eine Übersättigung dadurch durchaus vermieden werden kann. Das NYYD-Festival ist auch nicht das einzige Neue-Musik-Festival in Estland (u.a. Eesti Muusika Päevad/Estnische Musiktage, Pärnu Nüüdismuusika Päevad/Pärnuer Tage für zeitgenössische Musik, Sügisfestival/Herbstfestival), auch die Konzertreihen des NYYD-Ensembles, des Reval-Ensembles und anderer Interpreten füllen die estnische Konzertsaison mit ausreichend Neuer Musik.

Als Hauptgäste sind dieses Jahr zwei Komponisten geladen, die unterschiedlicher nicht sein können. Gavin Bryars und Steve Reich, von den Organisatoren entsprechend als „Avantgardist“ und „lebender Klassiker“ tituliert, sind erste Wahl, um die Vielfältigkeit der zeitgenössischen Musik zu zeigen. Auch wenn man über Einordnungen von Komponisten und deren Schaffen in bestimmte Schubfächer wie „Avantgarde“ oder „Klassik“ streiten möge; sie provozieren, ziehen das Publikum an und widerspiegeln die Veränderungen der sich ständig in Bewegung befindlichen Neue-Musik-Landschaft. Schon seit Gründung des Festivals ist man auf der Suche nach Alternativen zur akademischen Moderne, auch aus diesem Grunde finden zum NYYD-Festival auch so manche Gegenwartskomponisten, die anderswo vielleicht unter die Rubrik „nicht modern genug“ bzw. „konservativ“ fallen würden, eine offene Bühne.

Als Weltklasse-Interpreten sind auf dem diesjährigen Festival folgende vertreten:
Arditti Quartet, Nieuw Ensemble, Bryars Ensemble, Avanti! Chamber Orchestra, LRC Chamber Singers, Stefano Scodanibbio, Ensemble Trionys, Thomas Köner (beide Deutschland), David Rothenberg & Co, Studio für Elektronische Musik Centro Ricerche Musicali Rom. Estnische Interpreten sind neben den seit zehn Jahren auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik tätigen NYYD-Ensemble und Weekend Guitar Trio auch erfreulich viele jüngere und neue Ensembles: Voces Musicales (Chor und Ensemble), Küberstuudio (Cyberstudio), Reval Ensemble, Ansambel U: (Festival-Debut-Konzert), Studio für elektronische Musik Studio der Estnischen Musikakademie, dazu Studentensolisten und Studentenensembles.

Uraufführungen sind ein wesentlicher Bestandteil des NYYD-Festivals, dieses Jahr erklangen 21 neue Werke von 19 Komponisten. Die weiteren Werke sind bis auf wenige Ausnahmen estnische Erstaufführungen. Insgesamt kamen fast 100 Werke von 59 Komponisten aus 14 Ländern zur Aufführung.

Imposant ist die relativ große Zahl an Konzerten mit elektronischer Musik, Musik mit elektronischer Unterstützung, sogar an Multimedia-Ereignissen. Dabei traten nicht nur ausländische Künstler, Gruppen oder Studios in Erscheinung, sondern gerade auch estnische Ensembles und Gruppen: das Studio für elektronische Musik der Estnischen Musikakademie (EMA-Studio) und das estnischen Ensemble Küberstuudio (Cyberstudio). Aber auch im Konzert des Ensemble U: und Voces Musicales Ensemble war entweder elektronische Musik integriert oder wurde mit Elektronik gearbeitet. Dank der Mitarbeit von Studenten und Künstlern der Estnischen Kunstakademie (Eesti Kunstiakadeemia) konnten die Zuschauer bei den Konzerten des EMA-Studios und des Küberstuudio (Cyberstudio) sowohl visuell durch Video und Beleuchtungseffekte, als auch beim letzteren zusätzlich durch Kostüme in spannende multimediale Welten eintauchen. Die elektronische Musik improvisatorisch und auf eigene Weise interpretierte das deutsche Ensemble Trionys. David Rothenberg, John Wieczorek (beide USA) und das Weekend Guitar Trio verbanden ebenfalls Improvisation mit elektronischen Klangmöglichkeiten (dazu mit Video unterstützt). Als eines der eindruckvollsten Ereignisse mit elektronischer Klangerzeugung muss der Abend von Thomas Köner (Deutschland) gezählt werden, denn er erreichte durch Quadro-Surround-Klang und zwei Subwoofer eine einmalige, bis ins Mark gehende, räumlich fühlbare Klangintensität. Dass er auch konkrete Geräusche aus der Natur (Steine, Wind u.a.) mit verwendete, machte seine live-Performance um so plastischer.

Weitere Höhepunkte boten u.a. das NYYD-Ensemble, das Arditti String Quartet, das Avanti! Chamber Orchestra oder das Nieuw Ensemble (Amsterdam). Da die Erlebnisse auf dem diesjährigen NYYD-Festival so unzählige sind und man nicht gleichzeitig von allem berichten kann, erfolgt am Ende des Textes eine Übersicht über alle Konzerte. Dazu bietet der neue estnische Online-Almanach Eesti Muusikaarvustaja (Estnischer Musikrezensent, Estonian Music Reviewer) detaillierte Rezensionen ausgewählter Konzerte auch in deutscher, englischer oder russischer Zusammenfassung.

15.-22. Oktober, NYYD ’03, Internationales Festival für Neue Musik, Tallinn

Künstlerische Leiter des Festivals: Erkki-Sven Tüür, Olari Elts und Madis Kolk8 Tage, 20 Konzerte, 9 Meisterklassen und Treffen
Portrait-Konzerte Steve Reich und Gavin Bryars
Elektronische Musik und Multimedia

Links:Online-Almanach „Estnischer Musikrezensent“ (Eesti Muusikaarvustaja)
Konzertorganisation: Eesti Kontsert
Eesti Muusikaakadeemia (EMA) Studio für elektronische Musik der Estnischen Musikakademie
NYYD-Ensemble
Ensemble Küberstuudio (Cyberstudio)
European Conference of Promoters Of New Music
Informationen über die estnischen Musik: Estnisches Musikinformationszentrum
Festivals in Estland: www.festivals.ee

Estnische Festivals im Leipzig-Almanach:
Eesti Muusika Päevad/Estnische Musiktage
Sügisfestival/Herbstfestival


Detailliertes Programm

15. Oktober 17.00 Uhr, Rotermanni soolaladu/Rotermanns Salzspeicher,

Konzert des Studios für elektronische Musik der Estnischen Musikakademie (EMA)

Künstlerischer Leiter Hans-Gunter Lock

Ülo Krigul (1978), Mirjam Tally (1976), Toomas Trass (1966, UA), Vootele Aer (1979, UA), Malle Maltis (1977, UA), Tauno Aints (1975, UA), Hans-Gunter Lock (1974, UA), Liis Jürgens (1983, UA)
Multimedia-Konzert
Mitwirkende:
Kristi Mühling (Kannel), Ene Nael (Cembalo), Maria Bachmann (Klavier), Liis Jürgens (Harfe), Aleksandra Anstal (Schlagzeug), Anto ?nnis (Schlagzeug), Monika Mattiesen (Flöte), Riivo Kallasmaa (Oboe), Edmunds Altmanis (Klarinette), Kristjan Hallik (Violine), Indrek Pajus (Kontrabass), Hans-Gunter Lock, Janar Paeglis, Margo K?lar (Klangregie), Piibe Piirma, Jane Suviste (Video), Gerhard Lock (Lichtregie), Aivar Puna (Lichttechnik)
(EMA Studio für elektronische Musik)
Rezension im Eesti Muusikaarvustaja

15. Oktober 19.30 Uhr Konzertsaal Estonia, NYYD-Ensemble 10

Esa-Pekka Salonen (1958), Magnus Lindberg (1958), Steve Reich (1936), Gavin Bryars (1943), Erkki-Sven Tüür (1959, estnische UA)
Solisten: Anna Maria Friman (Sopran, Schweden), Gavin Bryars (Kontrabass, Großbritanien), Leho Karin (Cello, Estland)
NYYD-Ensemble
Dirigent: Olari Elts

Rezension im Eesti Muusikaarvustaja

16. Oktober 17.00 Uhr Estnische Musikakademie (EMA) Kammersaal

Pierre Boulez (1925), Toivo Tulev (1958, UA), Romeo Monteiro, Karlheinz Stockhausen (1928), Tristan Murail (1947), Steve Reich (1936)
Ansambel U:
Tarmo Johannes (Flöte), Tarmo Pajusaar (Klarinette), Merje Hallik (Violine), Peeter Altpere (Cello), Vambola Krigul (Schlagwerk), Raul Aan (Klangregie)

16. Oktober 18.45 Uhr Konzersaal Estonia

Märt-Matis Lill im Gespräch mit Gavin Bryars

19.30 Uhr Konzersaal Estonia

Gavin Bryars (1943)
„The South Downs“, „Lauda Nr. 2“ aus dem Zyklus „Laude Novella“, „The North Shore“, „Lauda Nr. 13“, „The Old Tower of Löbenicht“, „After the Requiem-Septett“, „Adnan Songbook“, „Epilogue from Wonderlawn“
Gavin Bryars & Ensemble
Rezension im Eesti Muusikaarvustaja#

17. Oktober 18.45 Uhr Konzertsaal Estonia, Erkki-Sven Tüür im Gespräch mit Steve Reich
19.30 Uhr Konzertsaal Estonia, Voces Musicales Ensemble



Steve Reich, Ülo Krigul, UA), Steve Reich (1936), Tatjana Kozlova, UA), Steve Reich
Voces Musicales Ensemble
Dirigent Risto Joost
Rezension im Eesti Muusikaarvustaja

17. Oktober 22.00 Uhr Saal der Kanuti Gilde

Rainer Bürck (Tasteninstrumente und Elektronik), Günter Marx (Violine und Elektronik), Martin Bürck (Gongs, Schlaginstrumente und Elektronik)
Ensemble Trionys (Deutschland)
Rezension im Eesti Muusikaarvustaja

18. Oktober 17.00 Uhr Rotermanni soolaladu/Rotermanns Salzspeicher

“ Fünfzehn Minuten Freiheit“

David Rothenberg (Klarinette, Rezitation, Video, Elektronik; USA), John Wieczorek (Schlaginstrumente; USA), Jaanika Peerna (Foto, Video; Estland)
Weekend Guitar Trio 10 (Robert Jürjendal, Tönis Leemets, Mart Soo)

18. Oktober 19.00 Uhr Konzersaal Estonia

„Drumming“

Kaija Saariaho (1952), Seppo Pohjola (1965), Steve Reich (1936): „Drumming“ (1970/71)
Avanti! Chamber Orchestra (Helsinki, Finnland)
Gastinterpret Steve Reich

18. Oktober 22.00 Uhr, Saal der Kanuti Gilde

„Une Topographie Sonore: Col de Vence“

Thomas Köner (Elektronik, Surround-Klang, Deutschland)

19. Oktober 16.00 Uhr, Rotermanni soolaladu/Rotermanns Salzspeicher

Maija Einfelde (1939), Giacinto Scelsi (1905-1988), René Eespere (1953, UA), Andris Dzenitis (1978), Ton de Leeuw (1926-1996), Kaija Saariaho (1952)
LRC Chamber Singers (Riga, Lettland)
Dirigent Kaspars Putninš

19. Oktober 19.00 Uhr, Konzertsaal Estonia

Karel Goeyvaerts (1923-1993), Helena Tulve (1972, UA), Patrick De Clerck (1958, UA), T?nu K?rvits (1969, UA), Wim Hendrickx (1962, UA)
ESTFLEM PROJECT – Uraufführungen mit Musik auf estnische und flämische Texte
Reval Ensemble
Solisten: Anu Komsi (Sopran, Finnland), Rauno Elp (Bariton, Estland)
Dirigent Risto Joost
Rezension im Eesti Muusikaarvustaja

Architekturmuseum, Estnische Musikakademie, Eesti Televisioon, Eesti Raadio, Von Krahli Theater, NYYD Ensemble

Das NYYD-Festivalist Mitglied des Vereins MTÜ Eesti Muusikafestivalid und der ECPNM (European Conference of Promoters Of New Music)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.