Son Frére von Patrice Chéreau zu den französischen Filmtagen (Johanna Gross)

Son frére (Film 2003) von Patrice Chéreau (17.11.2003)
Zurück bleibt EinsamkeitThomas (Bruno Todeschini) leidet an einer unheilbaren Blutkrankheit. Alle Behandlungsmethoden schlagen fehl. Thomas wird sterben, früher oder später, wann, das weiß keiner so genau. Luc (Eric Caravaca) ist Thomas‘ jüngerer Bruder. Beide haben seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Sie sind einander fremd geworden. Plötzlich steht Thomas vor Lucs Tür. Er verspricht sich Halt von ihm und Hilfe. Es ist der Beginn einer sehr intimen Freundschaft, deren Ende schon in Sicht ist.

Erzählt wird das Wiedererwachen einer fast verdorrten Brüderbeziehung. Der todkranke Thomas und sein Bruder Luc haben seit langer Zeit kein Wort mehr miteinander gewechselt, womöglich seit Lucs Outing als Schwuler. Erst die Krankheit führt die beiden wieder zusammen. Zunächst kümmert sich Luc nur widerwillig um seinen Bruder. Spannungen zwischen beiden brechen auf, werden herausgeschrieen. Längst verdrängte Kindheitserinnerungen werden wieder wach, lang unterdrückte Emotionen kommen zum Vorschein. Der Bruder wird zur sorgenden Mutter, zum besten Freund, beinahe zum Liebhaber seines Bruders. Aber der Tod lässt nicht viel Raum und so begleitet Luc den sich rasch verändernden Bruder im Krankenhaus und später im Strandhaus der Familie bis zum Ende.

Gegen die intime Beziehung der Brüder wirken alle anderen Beziehungen geradezu unterkühlt. Luc und sein Freund Vincent liegen im Bett nebeneinander wie angefroren, jegliche Leidenschaft scheint ihnen abhanden gekommen zu sein. Auch die Beziehung von Thomas zu seiner Freundin Claire ist gebrochen. Sie besucht ihn immer seltener im Krankenhaus, widersetzt sich seinen Berührungen. Die Eltern erscheinen in ihrer Hilflosigkeit verbittert und bemitleidenswert. Je weiter die Entfremdung fortschreitet, desto näher kommen sich die Brüder. Die Beziehung erfährt dabei eine beinahe doppeldeutig-ambivalente Note. So erfahren wir beiläufig, dass sich die Brüder als Jugendliche gegenseitig sexuell befriedigt haben.

Die Annäherung an die beiden Brüder geschieht sehr schlicht, mit viel Handkamera, den Blick auf ihre Gesichter gerichtet. Es ist der Blick Lucs, der immer anwesend bleibt, wenig spricht, sich aufopfert als letzter Hüter seines Bruders. Den Grund benennt er selbst sehr schlicht, es ist nicht Liebe, auch nicht Pflichtgefühl: „Du hast mich um Hilfe gebeten, also helfe ich Dir.“

Die Kamera nimmt stets die Perspektive des gesunden Bruders ein, der die medizinischen Eingriffe beobachtet. Niemals wendet sie sich ab vom Elend der Versehrungen, die die Krankheit anrichtet. In einer der quälendsten und intimsten Szenen wird der Betrachter Zeuge, wie zwei Krankenschwestern Thomas auf die bevorstehende Milz-Operation vorbereiten. Langsam streifen sie sich die Handschuhe über. Routiniert entfernen sie jedes Haar auf seiner Haut. Erst die Brust- dann die Beinhaare und schließlich das Schamhaar. Wie ein Tier auf der Schlachtbank lässt Thomas die Prozedur über sich ergehen. Die Kamera hat ihre Atemlosigkeit abgelegt. Nahezu in Echtzeit aufgezeichnet dauert die Szene eine halbe Ewigkeit. Sie bestürzt, sie peinigt.

Der Blick der Kamera ist von erschütternder Selbstverständlichkeit. Unerbittlich verweilt er auf kleinsten Details wie Blutergüssen oder spärlich zusammen geheilten Narben. Selbst auf Musik verzichtet der Film weitgehend. Umso eindrucksvoller erscheinen die entrückt wirkenden Szenen mit einem berührenden Song von Marianne Faithful. Hinter intimsten Gesten werden Gefühlszustände wie Verzweiflung, Sehnsucht und Verlassenheit sichtbar. Sterben offenbart sich als eine trostlose Angelegenheit. Es bringt zwar die beiden Brüder näher zueinander, aber entlässt in größte Einsamkeit.(Johanna Gross)

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