Sie kennen mich sicherlich, oder zumindest eine meiner Kolleginnen. Vielleicht ist es Ihnen nicht bewusst, aber ohne darüber nachzudenken, haben Sie in Ihrem Leben schon einige Zeit mit mir verbracht. Und wie viele von Ihnen ich erst erlebt habe! Wenn ich davon eine Geschichte erzählen sollte, ich wüsste nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören müsste. Es ist ein nie enden wollendes Berühren und Eindringen. Ich kann nicht behaupten, dass es mir immer gefallen hat. Ehrlich gesagt, ganz zu Beginn war es unangenehm. Fremde fleischige Hände fuhren über mein Äußeres, als wäre ich das Eigentum der Öffentlichkeit. Bin ich aber nicht.
Manchmal kam es mir vor, als ob jeder Fingerabdruck, den die Menschen auf mir hinterließen, unabwaschbar wäre und für immer meinen Körper verunzieren würde.
Das erste Mal war am schwierigsten. Er war groß gewachsen und bückte sich etwas, als er sich mir näherte. Seine Hände waren fest, ließen aber eine verborgene Zärtlichkeit vermuten. Er war einen Augenblick so wahnsinnig nah, direkt in mir. Danach war alles vorbei und er entfernte sich mit gleichmäßigen Schritten. Ich war noch sehr jung damals. Er hatte den gesamten Vorgang nicht einmal richtig wahrgenommen.
Männer behandelten mich meist auf die gleiche Art und Weise. Ob ihre Hände weich oder trainiert, ihr Griff schlaff oder energiereich, ihre Haut trocken oder feucht war. Ein jeder behandelte mich wie einen nutzlosen Gegenstand, der ich aber nicht war. Ich beanspruchte – und beanspruche – immer meinen Platz in der Welt und mir ist egal, wie die anderen mich behandeln. Das kann ich getrost ignorieren. Schließlich gab es so viele unterschiedliche Begegnungen mit den Geschlechtern.
Ja, natürlich traf ich auf ebenso viele Frauen wie Männer, möglicherweise sogar auf mehr Frauen. Das Weibliche ist mir persönlich lieber – das kann damit zusammenhängen, dass die meisten mich als „sie“ bezeichnen. Das sogenannte schwächere Geschlecht behandelt mich mit weitaus mehr Achtung und Respekt. Frauenhände sind meist sauberer. Sobald sie mich anfassen, scheine ich jeden einzelnen Finger auf mir zu spüren wie die Beine einer Spinne, die sich erst zart, dann aber in einer Umklammerung bis zum Ende des Vorgangs auf mich setzt. Im Gegenteil zu Männern finde ich weiblichen Schweiß anziehend, der Duft ist schwächer und trägt doch eine besondere Kraft in sich, die ich bei Männern nur selten finden konnte.
Auch mit Tieren habe ich manchmal zu tun, aber das ist eher selten. Ich selbst finde es ekelerregend, doch mein Besitzer besteht hin und wieder darauf, da kann ich ihm nicht widersprechen. Hunde mag ich ja noch leiden, sie interessieren sich nicht weiter für mich, aber Katzen! Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen – was ich aber aus beruflichen Gründen vermeiden werde – und Sie würden staunen. Das abstoßendste sind ihre Krallen. Gefalle ich ihnen besonders gut – das ist leider zu oft der Fall – fahren sie die scharfen Verteidigungswaffen aus und verletzen mich. Es gab sogar Erlebnisse, bei denen sie mich zum Bluten brachten. Aber mein Besitzer hat das meist sehr schnell unterbunden.
Eigentlich sollte ich nicht zuviel über mich erzählen. Das tue ich nur, um Ihnen einen gewissen Einblick in mein Privatleben zu verschaffen. Dadurch wird es einfacher zu verstehen, was mein liebster Moment in meinem fast neunzigjährigen Leben war.
Die Kolleginnen des Hauses sind sich darin einig, dass ich die erfolgreichste Arbeitskraft im Haus bin… und glauben Sie bloß nicht, das wäre keine Arbeit!
Eines schönen Tages besuchte uns das Enkelkind meines Besitzers. Sie ist ein süßer Spatz. Ihre goldenen Löckchen kringeln sich und fallen über ihre Schultern, springen belebt auf und ab unter ihrem kindhaften Gehampel. Sie ist wirklich ein Kind der Sonne. Ich hätte nicht vermutet, dass mein Besitzer es zulässt, dass ich in meinem fortgeschrittenen Alter noch mit ihr zusammensein durfte. Ich muss dazu sagen, ich habe einen guten Besitzer. Er trägt zwar eine kitschige dünne Goldkette mit einem Kreuz auf der Brust, aber von allen meinen Besitzern war er der Beste. Früher musste ich viel mehr draußen arbeiten, doch jetzt, nach so langer Zeit, hat er sich entschlossen, mir einen Platz im Inneren zu reservieren. Vor wenigen Wochen hat er sein Versprechen wahr gemacht und mich versetzt. Jetzt treffe ich nur noch auf wenig Kundschaft, aber das entspricht auch meinem Alter. Außerdem bin ich nun nicht mehr den hirnrissigen Typen ausgeliefert, die – statt etwas mit meiner beruflichen Funktion anzufangen – mich bepinseln wollen. Das ist doch pervers.
Natürlich sollte man auch die Wärme in einer geheizten Stube nicht unerwähnt lassen, besonders wenn man fast sein ganzes Leben lang an der Straße gearbeitet hat. Ich meine, ich habe mir diese bevorzugte Behandlung verdient.
Der fröhliche Lockenkopf kam also zu Besuch, ohne zu wissen, dass er auch auf mich treffen würde.
Als es niemand merkte, schlich sie sich davon. Ach, übrigens: ihr Name ist Cecilia, ein wunderschöner Name wie ich meine.
Cecilia wanderte unbewacht durchs Haus. Sie stieg Treppen hinauf und ging weiter die langen Korridore entlang, immer näher zu mir. Endlich kam sie in einem Saal an. Die Teppiche waren rot, die Wände weiß, mit dezent aufgemalten Verzierungen. Am Ende des Raums wartete ich auf sie. Cecilia ging unbeeindruckt von ihrer Umgebung direkt auf mich zu. Sie zeigte keine Angst oder Unbehagen. Cecilia näherte sich mir mit der noch unausgereiften Geschmeidigkeit einer zukünftigen Schönheit, deren Lockenkopf eines Tages für Chaos und Verwirrung in der Männerwelt sorgen würde.
Hoch türmte ich vor ihr auf. Sie blieb stehen. Ihre pummeligen Fingerchen griffen nach mir und berührten mich. Erst sanft, aber schnell mit ansteigender Intensität. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Ich genoss es. Cecilia kicherte leise, stellte sich in mich, so dass ich sie umgab und hob den Kopf, um mein Äußeres zu beobachten. Die ersten Worte ihres Lebens sprach sie zu mir und gewährte mir den liebsten Moment meines Lebens.
Ihre verletzliche Brust hob sich, und sie sagte mit einem verzaubernden Glanz in den Augen: „Schönes Tür.“
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