Ein Leipziger „Messiah“ oder: wieviel frischen Wind verträgt das Gewandhaus?

Die Arbeitsbedingungen des Gewandhaus-Chordirektors Morten Schuldt-Jensen drohen unannehmbar zu werden

Das Gewandhaus zu Leipzig – ein Ort der Innovation? Ein Blick schon auf die in den Gebäudegängen omnipräsente Ahnenreihe der Kapellmeister der letzten anderthalb Jahrhunderte von Mendelssohn über Nikisch, Furtwängler und Walter bis Masur, aber auch auf die aktuelle Programmgestaltung belehrt eines Besseren: das Gewandhaus – ein Hort der Tradition. Das gilt erst recht im Dezember, wenn man sich am Augustusplatz alljährlich mit Beethovens Neunter silvesterlich zuprostet und die vorweihnachtliche Zeit mit Händels Messias versüßt. Dass beide Konzerte (innerhalb der ehrenvollen, zweihundertfünfzig Jahre alten Reihe des „Großen Concerts“) in jeweils dreifacher Ausfertigung monatelang vorher ausverkauft sind, scheint ebenso selbstverständlich wie die Art ihrer Interpretation: gemeinhin wurden und werden sie – Beethovens Ode regelmäßig seit 1918, Händels Oratorium erstmals 1803 – mit symphonisch ausladendem Chor- und Orchesterapparat dargeboten, mithin wie es dem 19. Jahrhundert entsprach. So zeigt der Dezember prototypisch: das vorvergangene Jahrhundert ist das genuine Deutungsfeld der Gewandhausmusiker, nach wie vor.

Und doch: in diesem Jahr wollte Händels in englischer Originalversion dargebotener „Messiah“ so gar nicht taugen zur gewohnt weihevollen Reliquie unseres musikalischen Hausaltars. Verantwortlich dafür zeichnete Gewandhaus-Chordirektor Morten Schuldt-Jensen. Der seit 1999 in der Lindenstadt amtierende Däne propagierte einen radikal entschlackten Händel, dem die romantisierende Gefühligkeit und pompöse Heroisierung des 19. Jahrhunderts denkbar fremd sind. Gleichwohl (oder besser: vielmehr dadurch) konnte der Hörer in geradezu physischer Eindringlichkeit die sprachgewaltigen Ausdrucksbereiche der drei Abschnitte miterleben. Das galt für die messianisch-frohen Erwartungen des überaus beschwingt angegangenen ersten Teils ebenso wie für die Leidensbekundungen des mittleren Abschnitts und die gleichermaßen prachtvoll wie straff präsentierte Gottes-Apotheose.

Dass ausgerechnet der Passionsteil, in dem man üblicherweise manche „Länge“ wahrnimmt, am meisten fesselte (insbesondere im Kontrast zwischen der zurückhaltend und geschmeidig präsentierten A-cappella-Fuge „And with His stripes“ und dem ausgelassenen Chor „All we like sheep“) überraschte ebenso wie die Kunstgriffe, mit denen Schuldt-Jensen der gängigen Degenerierung der lautstarken Lobpreisungen zu lärmenden Schlachtmusiken entging. Gerade hier, im „Hallelujah“- und „Glory“- Überschwang, ficht der Däne – um im Bild zu bleiben – nicht mit Säbeln und Kanonen, sondern mit dem Florett und tänzelt sozusagen, höchste Aufmerksamkeit und Flexibilität fordernd, vor seinen „Truppen“.

Schon deren Anzahl garantierte: dieser „Messiah“ war vor falschem Bombast gefeit. Das radikal verschlankte, zwanzigköpfige Gewandhausorchester mit Frank-Michael Erben am ersten Pult wie auch der je fünfzehn Frauen und Männer starke, wunderbar ausgewogen intonierende Gewandhaus-Kammerchor agierten auf bestechend hohem Niveau. Dass dies in Manier der historisierenden Aufführungspraxis geschah, kam einer kleinen Revolution im Hause gleich. Für Schuldt-Jensen allerdings eine Selbstverständlichkeit, eröffnet das stilgerechte Musizieren vor-romantischer Musik doch einen weit größeren Ausdrucksreichtum als die Einheitsbrille des symphonisch denkenden 19. Jahrhunderts. Weniger die von ihrem Chef vorzüglich präparierten Sänger als die Instrumentalkollegen sahen sich denn auch vor immense spieltechnische Herausforderungen gestellt, lernen sie die kurzen An- und Abphrasierungen, das vibratolose Musizieren, überhaupt das organische Spiel von dynamischer Spannung und Entspannung auf kleinstem Raum in ihrem normalen Symphoniker-Alltag doch kaum kennen (bezeichnenderweise auch nicht bei den benachbarten Thomanern und deren Bach-Darbietungen, die die Gewandhäusler traditionsgemäß begleiten).

Um so mehr verblüffte jetzt die souveräne Virtuosität, mit der insbesondere die barocke Verzierungskunst praktiziert wurde. Gerade die nicht notierten, aber charakteristischen Ausschmückungen schlossen dem Hörer manch duftenden Blumengarten vor dem inneren Auge auf. Jan Kobow lieferte hierfür mit seinem Tenor-Rezitativ „Comfort ye my people“ gleich zu Beginn ein betörendes Beispiel. Er wie auch Jutta Böhnert (mit glockenhellem, gegen Schluss allerdings leicht intonationsgefährdetem Sopran) und Thomas Laske (mit kernig-stolzem Bass-Bariton) demonstrierten mit durchweg flexiblen Stimmen auf bestechende Art, wie sich Händels Arien ebenso so leichtfüßig wie ausdrucksintensiv gestalten lassen – erst recht, wenn sie so grenzwertig rasant angegangen werden wie von Schuldt-Jensen. Bei Anette Bods tremoloreichem Alt konnte man hingegen zweigeteilter Meinung sein. So eindringlich ihre Textgestaltung, so fraglich blieb ihre bühnendramatisch überspitzte Sicht der Largo-Arie „He was despised“ (quasi als Gegenmittel wählte Schuldt-Jensen – hier jedoch unglücklicherweise – ein zu zügiges Tempo, so dass die Dimensionen dieser schmerzerfüllten Verzweiflungs-Arie über Christi Leiden nicht adäquat vermittelt wurden.)

Doch solche Einwände (zu denen man auch die vergleichsweise obertonarm-flache Klangfarbe des „normalen“, nicht-authentischen Instrumentariums zählen kann) müssen verstummen angesichts der über weite Strecken aufwühlenden, von Eleganz und tänzerischem Feuer geprägten Gestaltung dieses zweieinhalbstündigen „Grand Musical Entertainment“, wie sein Textdichter Charles Jennens es nannte. Trotz oder auch vielleicht weil sie im Gewandhaus nach wie vor ungewohnt ist: für die historisierend-„moderne“ Sicht auf das Vertraute gab es im vollbesetzten Großen Saal lautstarke Zustimmung.

Also doch: das Gewandhaus – ein Ort der Innovation? Weit gefehlt. Andernorts, etwa bei Roger Norringtons Radiosinfonieorchester in Stuttgart oder auch (weniger radikal) bei Simon Rattles Berliner Philharmonikern, ist der Wechsel zwischen (spät-)romantischem und spezialisiert historisierendem Musizieren inzwischen Usus und wird begeistert gefeiert. Im Haus am Augustusplatz misstraut man hingegen offensichtlich solchen, hier ebenfalls erfolgreichen Experimenten. Nicht nur, dass Schuldt-Jensen seit geraumer Zeit eine adäquate Entfaltung, geschweige denn die gewünschte bescheidene Ausweitung seines Dirigats im „Großen Concert“ (vor dem Gewandhausorchester) verweigert wird, man beabsichtigt auch, die Mittel für die beiden von ihm seit 1999 aufgebauten (semi-)professionellen Gewandhauschöre auf ein Taschengeld zu kürzen. Das in diesen Zeiten allgegenwärtige Argument fehlender Finanzen wirkt da gleich doppelt schief – angesichts des im Vergleich zu den Orchesterkollegen (bisher schon) verschwindend geringen Sänger-Salärs, erst recht aber angesichts der Bereitschaft der Stadt, dem künftigen Kapellmeister Riccardo Chailly auch den teuersten Wunsch nach Weltklassesängern in der benachbarten Oper zu erfüllen.

So droht nun Leipzig mit Schuldt-Jensen, der unter diesen Bedingungen kaum wird weiterarbeiten wollen und können, nicht nur einen der international agilsten und vielseitigsten Chor- und Orchesterleiter zu verlieren; mit ihm würde auch der Gewandhaus-Kammerchor seine kontinuierliche Arbeit einstellen müssen. Selbst das nahezu konkurrenzlose Ansehen, das sich dieses Ensemble in kürzester Zeit bundesweit erworben hat, verhindert offenbar nicht die für Leipzig unrühmlichen Pläne. Damit wird offensichtlich: Es ist nicht nur jenes „romantische“ Deutungsfeld und die angestammte, zweifelsfrei hohe orchestrale Interpretationskultur, die hier gegen Neuerungen verteidigt wird; es ist vor allem die monokratische Position des Kapellmeisters, die man glaubt, um jeden Preis (kulturpolitisch wie finanziell) zementieren zu müssen. Vor diesem Hintergrund wirkt Schuldt-Jensens „Messiah“ nicht nur wie eine künstlerische Alternative; auch seine institutionelle, wenn man will: demokratische(re) Dimension offenbart sich. Ob sich die scheinbar ehernen Leipziger Traditionen auf Dauer davor verschließen können? Schuldt-Jensens drohender Abgang lässt es fast befürchten.

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.