Buchempfehlung: Michail Kononow, Die nackte Pionierin. Roman. Verlag Antje Kunstmann, München (Steffen Lehmann)

Michail Kononow: Die nackte Pionierin. Roman. Verlag Antje Kunstmann, München, 2003, 287 Seiten, 21,90 Euro.


Meißeln am Mythos

Mythen sind etwas sehr Nützliches. Sie tauchen die Welt in ein schönes Licht und lassen die Wirklichkeit für ein paar Momente Wirklichkeit sein. Mythen sind aber genauso sakrosankt wie emotional. Wer sich an ihnen zu schaffen macht, der muss mit allerlei Unbill rechnen. Der heute in Landshut lebende Michail Kononow hat sich an einem der wirkungsmächtigsten Mythen Russlands zu schaffen gemacht: dem Großen Vaterländischen Krieg. Dass ein solches Meißeln am Mythos auch in post-sozialistischen Zeiten nicht erwünscht ist, hat der Autor selber erfahren. Sein Buch, bereits in den stürmischen Wendezeiten der Perestroika geschrieben, konnte erst nach zwölf Jahren veröffentlicht werden.

Kononow entwirft ein wortgewaltiges Schlachtengemälde, das alles andere als nur heroisch ist. Marija Muchina ist vierzehn Jahr alt. Ihre Eltern kommen im Krieg um. Ein Soldat nimmt sie mit zur Roten Armee. Ihr Aufgabengebiet liegt im rückwärtigen Dienst, gefragt ist ?Dienst am Kollektiv?. Alle rufen sie Motte. Sie ist die Regimentsbraut. Vor ihrem Unterstand bilden sich vor jeder neuen Schlacht Schlangen mit Offizieren. Gesucht wird Trost, Liebe und schneller Sex. Das ist ihr Beitrag für den Sieg. Ihre Sorge gilt aber nicht der mangelnden Zärtlichkeit und den malträtierten Brustwarzen, sondern dem Hosengummi. Hosengummi ist kostbar, weil Mangelware. Doch für die Soldaten zählt nicht der Hosengummi, nur die schnelle Liebe, um sich danach mutig in die Schlacht zu werfen.

Mit Motte hat Michail Kononow eine hinreißende Romanfigur geschaffen, die sich, sorgsam in der Propaganda der dreißiger Jahre eingebettet, ihren Weg durch die Geschichte bahnt. Ihren aufgeregten Wortkaskaden ist nicht immer leicht zu folgen. Und der Autor spart nicht mit unliebsamen, doch längst bekannten Fakten. Die Realität holt Motte auf ihren Traumflügen ein, die sie im Auftrag des General Sukow durchführt. Der General entpuppt sich als rücksichtslos der eigenen Truppe gegenüber. Gilt es, die Soldaten nach vorn zu treiben, dann wird auch vor Erschießungen nicht halt gemacht. Auf ihren nächtlichen Rundflügen sieht Motte Dinge, die zu den Schattenseiten des Krieges gehören und oft nur schwer Eingang in die ?offizielle? Geschichtsschreibung findet. Ein Roman hat da mehr künstlerische Freiheit. Was nicht heißt, dass die beschriebenen Fälle von Kannibalismus reine Fiktion sind.

Frauen wurde bislang wenig Aufmerksamkeit als Akteuren im Krieg geschenkt. Eine Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst widmete sich diesem Aspekt in diesem Jahr. Zwischen 1941 und 1945 dienten zwischen achthunderttausend und eine Million Frauen in der Roten Armee. Die Zahl der gefallenen oder gefangengenommenen Soldatinnen ist bis heute unbekannt, ihre Alltagsprobleme sind kaum beachtet. Viele konnten nach dem Krieg über ihre Zeit in der Armee nicht sprechen. Als ?Marsch- und Feld-Frau? verunglimpft, geriet ihr Schicksal in Vergessenheit. Mit ?Die Nackte Pionierin? ist Michail Kononow aus dem scheinbar übermächtigen Schatten des Großen Vaterländischen Krieges herausgetreten. Jedoch ohne die Erinnerung an ihn gering zu schätzen.

(Steffen Lehmann)

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