Ein Gespräch mit Gabriele Salvatores

zur Premiere seines neuen Films „Ich habe keine Angst”

Filmszene aus „Ich habe keine Angst” (Bild: Verleih)

Glühende Hitze, goldgelbe Weiten des Kornfelds, Abgeschiedenheit eines süditalienischen Dorfes Ende der 70er Jahre. Das Spiel der Kinder wirkt merkwürdig bedrohlich. Plötzlich wird es bitterer Ernst. Der junge Michele entdeckt in einem Erdloch einen verwahrlosten Jungen, zu dem er zurückkehren und ihn kennen lernen wird. Wer hält ihn dort gefangen? Warum schweigen die eigenen Eltern und die Bewohner des Dorfes so geheimnisvoll? Und wer ist dieser schmierige Mailänder, der eines Tages als angeblicher Freund des Vaters auftaucht? Was macht in dieser Situation ein Junge, dessen Freunde ihm im Spiel Mutproben abverlangen, und dessen Vater ihn durch Armdrücken drillt, seine Männlichkeit und Stärke zu beweisen? Die Parole, keine Angst zu haben, wird für Michele zum Motor, sich über alle Regeln hinweg zu setzen, um Solidarität zu bekennen und sich gegen das Unrecht zur Wehr zu setzen.

Gabriele Salvatores neuer Film Ich habe keine Angst begeistert als Drama und Thriller mit atmosphärisch dichten Bildern von starker Suggestivität. 1992 erhielt der Filmemacher den Oscar für Mediterraneo als besten fremdsprachigen Film, eine Satire, in der ein Trupp italienischer Soldaten eine griechische Insel besetzt und die Bekanntschaft mit deren liebenswerten Bewohnern macht, während in der Heimat die Jahre des Zweiten Weltkriegs vergehen. Hierzulande ist vor allem sein Science-Fiction-Film Nirvana von 1996 bekannt. Zur Premiere seines neuen Films am 15. Dezember 2003 in den Passage-Kinos kam Gabriele Salvatores nach Leipzig und stand Jörn Seidel vom Leipzig-Almanach für ein Gespräch zur Verfügung.

Jörn Seidel, Leipzig-Almanach: Herr Salvatores, in Ich habe keine Angst überwältigt die Schönheit der Landschaft. Das ist auch in anderen Ihrer Filme so, die in ländlicher Abgeschiedenheit spielen. Elf Jahre nach Mediterraneo wirkt diese Idylle aber weniger wie ein Paradies als ein trügerischer Schein. Hat Sie der Glaube an die Schönheit verlassen?

Gabriele Salvatores: Ich hatte nie wirklich an das Paradies auf Erden geglaubt. Auch in Mediterraneo gibt es ja etwas, das parallel besteht, nämlich den Krieg, dem man entflieht. Letztlich ist es doch illusorisch, sich auf eine Insel wirklich zurückziehen zu können. Es ist aber tatsächlich so, dass unter dem schönen Schein in Ich habe keine Angst, ein Film, der sozusagen ein bisschen erwachsener ist, auch dieses Darunter existiert. Ich würde gerne dazu anregen, dass man nicht nur von oben auf etwas herab schaut, sondern auch sieht, was dahinter liegt.

Seidel: Spätestens seit Mediterraneo könnte man sie als einen politischen Regisseur bezeichnen…

Salvatores: In Italien werde ich überhaupt nicht als politischer Regisseur gesehen. Ich habe einen Film gemacht, der wirklich sehr politisch ist, das ist Sud (Süden). Ich gelte als jemand, der Geschichten erzählt, die irgendwie auch politisch sind, aber eben hauptsächlich als Geschichtenerzähler. Trotzdem sind meine Erfahrungen sehr politisch. Ich bin 1950 geboren, war ’68 mit dabei und auch meine politischen Ideen stammen irgendwie aus diesem Kontext.

Seidel: In Genua engagierten Sie sich gemeinsam mit anderen Regisseuren an dem Dokumentarfilm über die Ausschreitungen während des G8-Gipfels. Ist Ihr neuer Film, wie manchmal berichtet wird, tatsächlich wenig aktuell und eine rein historische Auseinandersetzung mit den mehr als tausend Entführungsfällen im Italien der 70er Jahre?

Salvatores: Die Wahl für dieses Thema ist nicht so sehr die Wahl für die 70er Jahre. Die Wahl ist die Wahl dieses Satzes, der auch der Titel des Films ist: „Ich habe keine Angst“. Es geht nicht so sehr um das Thema Entführung, sondern um den Verlust der Unschuld und das Kennenlernen des Anderen. Das ist heute wichtig. Auch kann dieser Satz in einer Zeit, in der die Leute immer mehr Angst haben vor Terrorismus oder vor Staaten, die angeblich gegen Terrorismus vorgehen, wie eine Art Mantra sein, um die eigenen Ängste zu überwinden. Im Film haben beide Kinder Angst voreinander, also der eine vor dem anderen genauso wie andersrum. Sie glauben, aus zwei völlig verschiedenen Welten zu kommen. Nur weil ihre Neugier so groß ist, nähern sie sich langsam an, lernen sich kennen und begreifen, dass es etwas gibt, das sie verbindet. Das ist der Moment, in dem sie sowohl freier werden, als in dem auch Solidarität entsteht. Das zweite wichtige Thema ist das Nicht-Gehorchen, der Ungehorsam, der Junge, der seinen Vater auf gewisse Weise betrügt, ihm nicht gehorcht, um seinen Freund zu helfen. Auch das ist etwas, das heute wichtig sein könnte

Seidel: Sie meinen, man reagiert heute falsch auf seine eigenen Ängste?

Salvatores: Das Ziel muss heute sein, nicht das zu zerschlagen, wovor man Angst hat oder Angst zu haben glaubt, oder meint, Angst haben zu müssen, sondern über die Grenzen hinauszugehen, um sich kennen zu lernen – ob auf kultureller, religiöser oder einfach auf menschlicher, eben allen Ebenen.

Seidel: Der Film ist aus der Perspektive eines Kindes gedreht. Was würden sie sagen, warum es sich lohnt, die Welt noch einmal aus Kinderaugen zu sehen?

Salvatores: Auch uns könnte es ganz gut tun, so neugierig wie Kinder zu sein und sich die Dinge einfach anzuschauen, sie aufzunehmen ohne sie immer gleich zu bewerten. Kinder gucken viel instinktiver auf die Welt. Die Rationalität, mit der wir die Dinge betrachten, bringt auch viel Unheil mit sich. Ein Kind hat einen Blickwinkel von unten. Wir sollten uns diesen wieder zu Eigen machen, uns also nicht so sicher sein bei unseren Urteilen, die wir aus nur einer Perspektive fällen. Zudem ist für Kinder das Spiel genauso real wie die Realität. Bei uns ist es genau umgekehrt. Selbst an das, was sehr real ist in unserem Leben, glauben wir nicht. Damit will ich aber nicht sagen, dass die Kindheit ein Paradies ist und ohne Probleme. Letztlich sind auch die Kinder im Film nicht nur gut, auch untereinander sind sie grausam und böse. An Kindern so toll ist aber, dass sie diese Neugier haben, alles verstehen wollen, die Welt kennen lernen und alles wissen wollen. Und das geht uns mit der Zeit verloren. In der Szene, in der Michele zum ersten mal das Loch öffnet, ist er zu Tode erschrocken, aber er geht wieder hin, weil er neugierig ist und wissen will, was da ist. Ich glaube, ein Erwachsener würde nicht zurückkommen.

Ich habe keine Angst (Io non ho paura)

Italien, Spanien, Großbritannien 2002, 109 min.
Regie: Gabriele Salvatores
Drehbuch: Niccol Ammaniti und Francesca Marciano, nach dem Roman Die Herren des Hügels von Niccol Ammaniti
Bildgestaltung: Italo Daniele Petriccione
Musik: Ezio Bosso und Pepo Scherman
Darsteller: Giuseppe Cristiano, Diego Abatantuono, Dino Abbrescia

Der Film läuft u.a. in den Passage-Kinos

Ein Kommentar anzeigen

  1. fantastischer Film !! Ich habe G.Salvatores erst jetzt über 3Sat kennengelernt . Einer der wenigen Regisseure,

    die Inhalt und Form des Films perfekt beherrschen.

    Ähnlich wie Tony Gatlif oder Ken Loach behandelt er

    Themen, die zeitlos sind.

    Jetzt möchte ich mir auch seine anderen Filme

    ansehen.

    Hans Neumann, Austria

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