Das Monstrum Mathilda

Nach „Das Monstrum“ der neue Film aus Leipziger Produktion

(Bild: Sunset-Movie Production)

Eine Affäre zwischen Wachmann und Uhren-Diebin, eine Leiche, vielleicht auch keine, ein Vater, der seine Tochter missbraucht, eine Mutter, die distanziert von der Familie lebt, ein dementer Opa, ein von Drogen berauschter Bruder, und immer ist es dunkel. „Ey, was soll die ganze Kacke hier?“

Dieser Ruf des Bruders aus dem Kofferraum klingt wie ein Hauch von Selbstironie, mit dem René Reinhardt die abstrusen Verstrickungen seines neuen Films Mathilda kommentiert. Es ist der zweite Film des Theaterregisseurs nach dem Publikumserfolg Das Monstrum, eine Satire über das Völkerschlachtdenkmal, der zusammen mit Miriam Pfeiffer und ihrer gemeinsamen Produktionsfirma Sunset-Movie in Leipzig entstand. Am 7. Januar feierte Mathilda Premiere und sorgte für einen Besucheransturm, mit dem keiner gerechnet hatte. Zwar hatte das Leipziger Publikum Das Monstrum geliebt, dennoch missfällt er wie auch Mathilda jedem Verleih, der ihn bundesweit zeigen könnte. Vielleicht ist dafür ist auch diesmal die Geschichte eine zu verschrobene. Nun war aber auch das Publikum zögerlicher und applaudierte nur verhalten. Die Premierenfeier als Show-Act mit Büffet und Heavy-Metal-Band „Plaque“, die den Großteil des Soundtracks lieferte, zeigte jedoch abermals, dass das örtliche Publikum seinen eigenen Filmemachern die Treue hält, vor allem dann, wenn Regisseur und Schauspieler noch wohl bekannt aus Inszenierungen des Schauspiels Leipzig sind.

Dabei ist die Neugier nicht unberechtigt, denn Mathilda ist ein spannungsreiches Experimentierstück. Moritz (Roman Knizka) ist ein übereifriger Wachmann in der Probezeit, der Mathilda (Nele Rosetz), eine Diebin, die Uhren in allen Variationen stiehlt, des Nachts in einer Fabrik auf frischer Tat ertappt. Bei der Verfolgungsjagd vergreift sich sein Kollege sexuell an der Diebin – eine Antizipation auf ein späteres Kapitel. Moritz schlägt ihn jedoch nieder und lässt sie entwischen, nicht aber ohne ihr seine Telefonnummer zu hinterlassen. Denn scheinbar hat sich der „Gendarm“ in den „Räuber“ verliebt. Fortan wartet Moritz auf Mathildas Anruf. In kurzen Episoden eröffnen sich unterdessen seine zerrütteten Lebensumstände. Daheim vegetiert der Großvater apathisch dahin, sein kleiner Bruder findet Ablenkung in Drogen und Partys, auf seine Mutter (Corinna Harfouch) trifft er nur noch per Zufall und der verletzte Kollege macht ihm den bitter nötigen Job schwer. Als eines Abends endlich der Anruf kommt, in dem Mathilda Moritz auf der Stelle zu ihrer Wohnung bittet, empfängt ihn eine böse Überraschung statt der ersehnten Liebesnacht. Unsanft konfrontiert sie ihn mit einer Waffe und der Nachricht, sie habe angeblich ihren Vater ermordet und die Leiche stehe im Schrank. Vieles entpuppt sich in dieser Nacht als Bluff und Spiel. So steht plötzlich leibhaftig ihr Vater (Andreas Schmidt-Schaller) in der Tür, und in langen Szenen spüren die drei Personen das vielleicht eigentliche Thema des Films auf: der Missbrauch durch den Vater in ihrer Kindheit.

René Reinhardt kommt somit erst über lange Umwege zum Thema des Missbrauchs. Sie sind so lang, dass man zweifelt, ob es überhaupt das eigentliche Thema ist. Denn eine wirkliche Auseinandersetzung findet kaum statt. Sollte der Zuschauer durch den angeblichen Mord gar mit der Moralität von Rache konfrontiert werden? Dann aber wurde versäumt, die Tat, für die es sich lohnen würde, illegal Rache zu üben, spürbar und nachvollziehbar zu machen. Denn ein solcher Akt bedarf mehr als bloßer Schilderungen, sondern gefühlter Wut als Zeuge der Tat. Das Thema des Films bleibt letztlich unscharf, seine nähere Bestimmung hätte jedoch vermutlich über viele Irrungen hinweg geholfen. So bleibt die urplötzliche Verliebtheit des Wachmanns in die Diebin schwer nachvollziehbar, sondern erscheint schlichtweg als gegeben, wodurch alle seine daraus resultierenden Intentionen ebenso fragwürdig bleiben. Auch müssten die Nebendarsteller nicht einer biederen Weichzeichnung unterliegen wie der Bruder als Prototyp der Kombination von Party, Droge, Egoist oder Corinna Harfouch als Moritz‘ Mutter und Peter Lohmeyer als Mathildas Uhren-Käufer, deren Gastauftritte zwar schauspielerischen Glanz strahlen, aber letztlich verschenkt sind.

Das ausgedehnte, aktionsreiche Vorspiel ist geprägt von vielen peripheren Details, die es eifrig vorantreiben, aber womöglich auch überladen. Es mündet in einem verquerten, zugleich aber auch faszinierenden Kammerspiel voller Absurditäten. Das Spiel, das sich ab der Ankunft Moritz an Mathildas Wohnung in den nur wenigen dunklen Räumen wie auf einer Theaterbühne bewegt, reizt mit Verborgenem, mit der Täuschung und überraschenden Wendungen und nicht zuletzt mit der Spannung durch zwei nie entschlüsselbare Charaktere. Mathilda wirkt bisweilen schizophren und unnahbar. Und der einst übereifrige Wachmann Moritz enttarnt sich als gewaltbereiter Narr seiner Liebe, die ihn zu allem fähig macht. Manchmal jedoch ist seine Figur überzogen und driftet ab ins Lächerliche, so während eines Kampfsporttricks, mit dem er einen stämmigen Türsteher überwältigt.

Auch scheint seine Figur dafür herhalten zu müssen, das Können filmischer Effekte zu beweisen wie die Zeitlupe, wenn er zum Telefon stürmt, oder das Auto in der Nacht, das wie ein Schiff auf dem Meer schaukelt. Solche Momente wiegen in der latenten Ironie des Films ohnehin nicht schwer, zeigen aber, dass das filmische Handwerk noch nicht als Mittel zum Zweck einer kohärenten Gesamtstruktur involviert ist. Doch Reinhardt ist dabei auf gutem Wege. Mathilda reizt vor allem mit seiner düsteren Atmosphäre, dem Spiel mit Schatten und Licht in fortwährend dunklen Bildern, einer Geschichte des Absurden und Grotesken und dem ungewöhnlich spannenden Agieren seiner drei Hauptdarsteller. Wenn Reinhardts Filme künftig an Stringenz gewinnen, könnten sie nicht länger nur Neugier, sondern auch bundesweit Erfolg ernten.

Mathilda

Deutschland, 2002, 92 min.
Regie und Buch: René Reinhardt
Kamera: Uwe Mann
Musik: Heiko Schneider
Darsteller: Roman Knizka, Nele Rosetz, Andreas Schmidt-Schaller

Schaubühne Lindenfels, 7. Januar 2004

Der Film läuft bis 20.1. in der Schaubühne Lindenfels, ab 22.1. in der Kinobar Prager Frühling.

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