Große und kleine Offenbarungen

Neuentdeckungen im Repertoire: Der MDR Chor und das Orchester geben Franz Schmidts „Das Buch mit sieben Siegeln”

„Meines Wissens ist mein Versuch, die Apokalypse zusammenhängend zu vertonen, der erste, der bisher unternommen wurde?“ wird der Komponist Franz Schmidt im Programmheft zitiert und es klingt ein wenig Stolz in diesen Worten. Und es ist tatsächlich eine interessante Frage, warum die Offenbarung des Heiligen Johannes, deren Text bei den vielen Posaunentönen nach Musik schreit, wie nach Blut und Schmerz, nicht öfter vollständig vertont wurde. Etwa so ähnlich, wie es Schmidt tut mit „Das Buch mit sieben Siegeln“.

Und es war auch eine kleine Offenbarung, dieses abendfüllende Mammutwerk. Die Musik Franz Schmidts, der sein Geburtsjahr mit Arnold Schönberg teilt, lässt sich schwer vergleichen mit den verschiedenen Stilrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie verrät durchweg eine souveräne Beherrschung des Handwerks und viele schöne Einfälle im Detail. Wirkt aber dennoch zum Teil eklektizistisch, weil viele Stilmittel und -elemente angedeutet, aber nicht mit aller Konsequenz weitergeführt und ausgebaut werden. Dennoch war dieses Oratorium eine Begegnung mit einer weiteren Dimension der Musik des letzten Jahrhunderts und eine Bestätigung der Vielseitigkeit dieser Zeit, was über einige Schwächen des Werks allerdings nicht hinwegtäuschen kann. Eines aber kann jetzt schon vorweggenommen werden, was Chor und Orchester unter dem Dirigat von Fabio Luisi an diesem Abend leisteten, war einfach berauschend.

Formal orientiert sich „Das Buch mit sieben Siegeln“ nur grob an der traditionellen Form des (barocken) Oratoriums. Die Partie des Heiligen Johannes gestaltet ein „Evangelisten“-Tenor. Hinzu kommt ein Bass mit der ehrwürdigen Aufgabe, die Stimme des Herrn zum Ausdruck zu bringen. Beide Männer werden unterstützt von einem Gesangssolisten-Quartett, die alle anderen Rollen übernehmen. Neben dem obligatorischen Chor gibt es bei Schmidt noch einen Organisten mit solistischen Aufgaben. Doch eine strenge Gliederung in Rezitative, Arien und Choräle vermeidet der Komponist. Oft gehen die Absätze unvermittelt in einander über und es überwiegt, was bei diesem Sujet nicht verwunderlich ist, das Dramatische. Einzelne, sich ablösende Arien oder Choräle würden auch eher unpassend erscheinen.

Ohne instrumentales Vorspiel beginnt der „Evangelist“ gleich mit dem Text. Allerdings nicht rezitativisch, sondern mit deklamatorischen Melodien. An manchen Stellen werden sie fast schwelgerisch und verlassen den strengen Sprachduktus, aber durchweg sind sie von üppigem Nuancenreichtum mit expressivem Ausdruck. Mit Herbert Lippert stand ein Tenor zur Verfügung, wie er für diese Aufgabe nicht hätte besser ausgesucht werden können. Seine warme und hingebungsvolle Stimme besaß Kraft und Klarheit und konnte im richtigen Moment auch aufblühen wie bei einer Richard-Strauss-Arie.

Zu den eher sonnigen Melodieführungen des Tenors bewegt sich das Orchester am Anfang in einem marschähnlichen, gravitätischen Schreiten, das nur von gelegentlichem Donner und Blitz und lebhaften Illustrationen der Worte unterbrochen wird. Dieses unaufhaltsame Schreiten wird den Hörer durch das Stück begleiten und immer dann, wenn von Gott die Rede ist, wieder auftauchen.

Dem ersten Ertönen der „Stimme des Herrn“ geht dann doch noch ein längeres Orchestervorspiel voraus. Ein dunkler und elegischer Ton umfängt die Worte Gottes. Jan-Hendrik Rootering hat ebenfalls eine wunderbare warme Stimme und eine hohe Kultur des Singens, kann sich aber nie richtig gegen das Orchester durchsetzen und wirkt daher als „Allmächtiger“ durchweg zu kraftlos.

Beim Solisten-Quartett besticht vor allem der schmiegsame Sopran (Annette Dasch), deren Stimme die der anderen umweht wie ein Frühlingswind. Eindrucksvoll ist es, wie Franz Schmidt die vier Sänger in Szene setzt und teilweise auch a capella mit dem Chor zusammenbringt. Als die Worte „Heilig ist der Herr, Gott der Allmächtige…“ zum zweiten Mal erklingen, beginnen Quartett und Chor ohne Begleitung zu singen, erst nach und nach setzt das Orchester ganz sanft ein, vor allem die Bläser, und es entsteht eine sehr innige und warme Atmosphäre.

Überhaupt ist die Wahl der Mittel im ersten Teil durchweg wirkungsvoll und anziehend. Mehr und mehr wird der Hörer durch überraschende Wendungen, effektvoll eingesetzte Dissonanzen und enorme dynamische Steigerungen in den Bann gezogen, fasziniert oder auch verstört. Trompetenstöße werden zu Engelsrufen, die Holzbläser umranken geheimnisvoll die ausgesprochenen Ahnungen, was sich im Buch der sieben Siegel verbergen könnte, in Form von zehn Kontrabass-Stimmen tun sich die tiefsten Abgründe der Musik auf. Der Chor wird oft a capella eingesetzt, den „Evangelisten“ begleitet mitunter nur die Orgel, barock-hymnische Anklänge sind von irritierenden Blechbläserfunken umgeben.

Das Brechen des ersten Siegels wird von einer langen Orgelfantasie eingeleitet, ebenso das des siebten Siegels, mit dem der zweite Teil der Komposition beginnt. Den Siegesritt der himmlischen Heerscharen begleiten erst peitschende Rhythmen, dann schroffe, harte und abgehackte Phrasen von Chor und Orchester, die rhythmisch ebenfalls eindringlich und bedrohlich wirken. Bis hin zum Tumult werden dynamische Steigerungen geführt, das Blech fährt schrill dazwischen und trockene Schlagbatterien machen Angst.

Der Einfallsreichtum im ersten Teil des Werkes ist wirklich ernorm. Beim „Schwarzen Reiter“ erklingen über gezupften Streichertönen Holzbläsemelodien und klagende Frauenstimmen. Der Frauenchor beginnt anschließend in einer Art Sprechgesang, begleitet von hohlen Percussion-Tönen und einer grauen, tiefen Posaune. Im Männerduett erreicht der Sprechgesang dann schon fast expressionistische Züge.

Aber auch wie Schmidt den Chor behandelt, ist überwältigend. Mal fugierend, mit einer Art Orgelfantasie unterlegt, dann – beim sechsten Siegel – mit solchen enormen Steigerungen und einem immer intensiveren sich Hinaufschrauben, dass das „große Erdbeben“ physisch spürbar wird und der „Tag des Zorns“ die Erde wirklich wanken lässt. Und dazu ertönen noch die gewaltigen und alles niedertretenden Schritte des Anfangs im Orchester, dass einem ganz schwindlig werden könnte.

Der MDR-Chor leistet dabei Übermenschliches mit seiner grandiosen Stimmkraft, die aus der Musik eine alles hinwegreißende Sturmflut macht. Und es dürfte den Sängern auch an die Grenzen ihrer Kräfte gehen, wenn sie die meiste Zeit in maximaler Lautstärke agieren müssen.

Nach diesem ersten Teil, Unheil genug ist ohnehin auf Erden angerichtet worden, hätte man das Werk gut und gern beschließen können. Bis hierher war es unnachahmlich, originell und von unglaublicher Suggestionskraft. Doch eben deshalb auch eine weitere Steigerung nicht möglich. Und so enttäuschte der zweite Teil, das Brechen des siebten Siegels.

Immer wieder müssen Tuba und Posaunen herhalten, um das berühmte Ertönen der Posaunen anzuzeigen. Immer wieder steigert sich der Chor zu gewaltiger Klangmacht, um daraufhin sich wieder zu sammeln und von vorn zu beginnen. Es fehlt die Originalität und Vielseitigkeit des ersten Teils. Der zweite ist deutlich gedrängter und dabei in dem Zwang, gegenüber dem ersten eine weitere Steigerung zu bringen, eintönig in seinem Pathos und seiner Gewalt. Die verschiedenen Abschnitte gleichen sich zu sehr.

Das Ende ist dann allerdings überraschend. Nach all den Machtdemonstrationen Gottes ertönt kein Jubelchor, sondern ein eher getragener und schwerfälliger Gesang. Das Orchester übernimmt dabei die Deklamation des Chores und verliert sozusagen seine Eigenständigkeit. Mit den Worten „Wir danken Dir, o Herr…“ singen die Männer dann ganz leise und still a capella im liturgischen Stil. Es ist, als hätte die Welt nach dem Jüngsten Gericht ihre (Instrumental-)Musik verloren. Das ist bedrückend, auch wenn nicht ganz klar ist, ob der Komponist diesen Eindruck tatsächlich so beabsichtigt hat.

Mit den Schlussworten des Johannes kehrt das Stück an den Anfang zurück. Zu der schon bekannten Begleitung des Orchesters erklingen seine freundlichen Worte „Ich bin es, der all dies hörte und sah…“ fast beruhigend, als sei alles nur ein schlechter Traum gewesen. Doch zur Warnung schickt Schmidt nach dem letzten Amen noch ein gewaltiges Ausrufezeichen des Orchesters hinterher. Ganz so zufrieden möchte er uns doch nicht davonkommen lassen.

Kehren wir nun zu der Frage zurück, warum die Apokalypse nicht häufiger vollständig komponiert wurde, so gibt das Oratorium Schmidts von selbst die Antwort. Ein Text, der sich so in Extremen bewegt, lässt sich ganz schwer vertonen. Und eine Musik, die die Konventionen nicht zu durchbrechen vermag, wie es etwa die Schönbergs getan hat, rennt dann in ihren permanenten Steigerungen unaufhörlich gegen die eigenen Grenzen an. Das Resultat ist, dass die herausragenden originellen Einfälle im Detail am Ende verdeckt werden von den quantitativen Ausmaßen an Lautstärke und Klangfülle, die einzig bleiben, wenn die herkömmlichen Muster des Komponierens keine weitere qualitative Steigerung mehr zulassen. Insofern hätte auch in diesem Fall eine kürzere Version dem Stück gutgetan, was vielleicht auch erklärt, warum es so selten aufgeführt wird.

Dennoch ist die Aufführung lohnenswerter als jede der endlosen Wiederholungen des Standardrepertoires und es ist in dieser Hinsicht einmal mehr ein Verdienst des Rundfunks, unsere Hörerfahrungen auf solch schöne und anspruchsvolle Weise wieder erweitert zu haben.

Franz Schmidt „Das Buch mit sieben Siegeln“

Oratorium für Soli, Chor, Orchester und Orgel
Text aus der Offenbarung des Hl. Johannes

MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor

Dirigent: Fabio Luisi
Choreinstudierung: Howard Arman, Heiko Reintzsch

Solisten:
Herbert Lippert, Tenor
Jan-Hendrik Rootering, Bass
Annette Dasch, Sopran
Natela Nicoli, Mezzosopran
Johannes Chum, Tenor
Günther Groissböck, Bass

Michael Schönheit, Orgel

09.01.2004 Gewandhaus, Großer Saal

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