Lesung und Gespräch mit Sahra Wagenknecht (Roland Leithäuser)

12.1.2004 Haus des Buches

Lesung und Gespräch mit Sahra Wagenknecht
Moderation: Frank Schumann

IN MEMORIAM HEINER MÜLLER (1929-1995)

S.W. (EINE FRAU MACHT GESCHICHTE; VIELLEICHT)

1
Das Loch im Kapitalismus
2004. Haus des Buches Leipzig.

Alte, Studenten und Studentinnen, die neuen Geknechteten, löffeln geduldig die immer alte Suppe. Über dem kahlen Saal der Qualm von ?Nostalgie?.

Eine Frau, Sahra W., Politikerin und attraktive Marxistin, widerspricht dem System: Es ist nicht der Mensch, der Mensch ist gut. Wirkfehler. Kann sein, das System hat schlecht gearbeitet, die neoliberale Brutalisierung, kann sein, es ist die größte Krise der Weltwirtschaft seit dem zweiten Weltkrieg.

2
Die neue Direktorin
Januar 2004. Immer noch im Haus des Buches.

Die RentnerInnen, die StudentInnen, die GenossInnen erwarten mit verschiedenen Vorstellungen, Ängsten, Wünschen die neue Direktorin. Sie ziehen Vergleiche zwischen der pointierten, undogmatischen Globalisierungskritik eines Michael Moore, der ATTAC-Bewegung, und den immer ?ollen Kamellen? (wie der Rezensent, ein Rheinländer, sagen würde) der neuen Direktorin, dem pastoralen Tonfall, in dem sie von ?dem dunklen Kontensystem des Geldadels? spricht, ?Sozialismus statt Barbarei? fordert und nicht die bestbekannte Anekdote von den Verwicklungen der USA in die Aufrüstung der islamistischen Terrornetzwerke für sich behält.

Rundumschlag der neuen Zeitdiagnose – Direktorin S.W., geführt vom Repräsentanten der Eulenspiegel-Verlagsgruppe, gegen den Betrieb im allgemeinen und die texanischen Ölbarone im speziellen. Die Angst vor der neuen, großen Aufgabe schwindet, je mehr die Aufgabe ihre Schwierigkeiten zeigt. Einmal gesehen sind sie überwindbar: Der Rundgang hinterläßt eine breite Spur: Die Direktorin hat es eilig: Routineglobalisierungskritik wie gehabt. Das Publikum stellt Fragen, die Direktorin beantwortet sie in aller gebotenen Kürze.

Die Direktorin setzt sich an die Nähmaschine der Geschichte, zeigt den Umsitzenden, wie die Arbeit mit einfachen Handgriffen zugleich erleichtert und beschleunigt werden kann. Der Direktorin gefällt der Lauf der Welthistorie nicht, wie er an den Maschinen zusammengenäht wurde. Muß sie so grau und ungerecht bleiben. Warum nicht was Buntes draufnähen, eine kleine Revolution, einen leuchtenden Generalstreik?

Die Meinung des Publikums ist geteilt. Streit in den hinteren Sitzreihen: Alte Besen kehren nicht immer gut. Was hab ich gesagt? Kaum ist sie da, muß sie schon was einführen!

Der Rezensent verläßt den Krieg-ohne-Schlacht-Schauplatz. Vor dem Haus wartet mit laufendem Motor der Dienstwagen der Direktorin.

Der Verlagsrepräsentant warnt nach der Lesung seine Direktorin: Wenn du dich um alles kümmern willst, wirst du weit kommen. S.W.: Wenn sie merken, daß ich mich um alles kümmere, sind wir bald eine Familie, und sie kümmern sich selber und kommen nicht mit jeder Kleinigkeit zu mir – vorausgesetzt, sie haben vorher mein Buch gekauft.

Die Arbeit der Revolutionsleiterin S.W. wirkt sich aus in den Familien der ArbeiterInnen. Und in ihrer eigenen Partei, für die sie keine Zeit hat. Die, die anderen hilft, kann sich selbst nicht helfen. Und wieder siegen die ewigen ?Giganten des Aggro-Business?.

Postscriptum: Bertolt Brecht faßte es einmal so zusammen: ?In der >>Roten Fahne<< stand noch 1933, ?Wir werden siegen!?, da hatte ich mein Geld schon in der Schweiz.? Die obige Besprechung entstand unter Verwendung der folgenden Literatur: Heiner Müller: L.E. (EINE FRAU MACHT GESCHICHTE). In: Ders.: Werke 2. Die Prosa. Herausgegeben von Frank Hörnigk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. sowie Sahra Wagenknecht: Kapitalismus im Koma. Eine sozialistische Diagnose. Berlin: edition ost 2003.

(Roland Leithäuser)

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