Onkel Wanja, Tschechow-Premiere im Schauspielhaus (Ian Sober)

17.01.2004 Premiere
Schauspiel Leipzig,Schauspielhaus


Anton Tschechow
Onkel Wanja

Regie:Markus Dietz
Bühne und Kostüme:Franz Lehr
Musik:Thomas Hertel
Dramaturgie:Michael Raab

Darsteller s. unten

Wir sind geistlos und langweilig

…sagt die schöne Professorengattin Elena von sich und ihrem (um vieles älteren) Mann. Seit Tagen haben sie sich eingenistet auf ihrem Landgut, das von ihren Verwandten verwaltet wird: der Tochter des Professors aus erster Ehe, Sonja, sowie der Mutter seiner ersten Frau und deren Sohn Wanja. Alle sind alsbald infiziert von der snobistischen Untätigkeit der Gäste.

Wanjas nach höherem strebender Geist sucht verzweifelt in Elena einen Zielpunkt, seine Leidenschaft jedoch bleibt unerwidert. So auch die jugendliche Schwärmerei Sonjas für den Freund des Hauses, den Arzt Michail. Der fühlt sich ausgebrannt, überarbeitet und liebesunfähig. Ironischerweise sind es Elena und Michail, die sich voneinander angezogen fühlen, doch beider Vorbehalte verhindert wirkliche Liebe.

Wie immer bei Tschechow lebt das Stück von Gesprächen, die nahezu monologisch Lebensproblematiken umkreisen. Dieser Grundton ist sehr gelungen durch eine visuelle Metapher getroffen: Luftschaukeln, auf denen die Schauspieler im ersten Akt durch den weiten Bühnenraum schweben. Der Ton kontemplativer Untätigkeit, in dem die Protagonisten ihre Lebensphilosophien verkünden, wird von Regisseur Markus Dietz – dem Zeitgeist angemessen – extrovertierter und aggressiver aufgefaßt: Die zugrundeliegenden Motivationen werden freigelegt. Oft scheinen diese dann sexueller Natur zu sein. Die Kammerzofe Marina jedenfalls ist wohl ein Produkt dieser Schwerpunktverlagerung.

Wie oft bei den Leipziger Inszenierungen ist die audio-visuelle Komponente sehr gelungen, das Bühnenbild drängt sich fast schon etwas in den Vordergrund, gerät mit seiner perfekten Ästhetik in Gefahr, Selbstzweck zu werden. Es gibt jedoch auch Momente, wo die optischen Reize ganz im Dienste des Stückes stehen: Bei einer traumähnliche Sequenz zwischen erstem und zweiten Akt, deren Farbwechsel eine Phantasie Wanjas in Bezug auf Elena mit dem Übergang zur Nacht verschmelzen läßt. Auch bei einem Gespräch Elenas mit Michail, bei welchem Michails Lichtbildprojektionen zu einem Spiel der Farben hinter einem Arsenal grotesk anmutender Lampenschirmformen führen und das dadurch plötzlich einen seltsam schwebenden Charakter erhält. Es gibt jedoch weniger gelungene Beispiele, so wenn im zweiten Akt die nächtliche Gesellschaft in Schiesser-Unterwäsche durch die Gegend läuft und sich dadurch eine gewisse Werbespot-Ästhetik einschleicht.

Tschechows Figuren lassen viel Raum für Individuelles, so scheint es verwunderlich, wenn die zweifellos solide Leistung von Michael Schütz als Michail und Jens Winterstein als Wanja doch die beiden Charaktere nicht nennenswert unterschiedlich erscheinen läßt. Auch Liv-Juliane Barine als kühle Schönheit könnte mehr slawische Vollblütigkeit vertragen. Keine mangelnde Intensität kann man Daniela Holtz als Sonja vorwerfen, sie überzeugt durch ihre jugendliche Überschwenglichkeit. Auch Friedhelm Eberle gibt einen gelungenen professoralen Schwätzer. Das Stück ist stark genug, um Momente vergessen zu lassen, wo die Inszenierung nicht ganz überzeugt. Viel Beifall zur Premiere im ausverkauften Schauspielhaus.

Ian Sober

Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow, Professor im Ruhestand: Friedhelm Eberle
Elena Andrejewna, seine Frau: Liv-Juliane Barine
Sofja Alexandrowna (Sonja), seine Tochter: Daniela Holtz
Marja Wassiljewna Wojnizkaja, Mutter der ersten Gattin des Professors: Barbara Trommer
Iwan Petrowitsch Wojnizkij (Wanja), ihr Sohn: Jens Winterstein
Michail Ljwowitsch Astrow, Arzt: Michael Schütz
Ilja Iljitsch Telegin: Martin Reik
Marina, Hausangestellte: Jana Bauke

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