Zwei Dokumentarfilme zum Gedenktag der Opfer des Holocaust am 23.01.2004 (Anja Szymanski)

23.01.2004 Polnisches InstitutGedenktag der Opfer des Holocaust?… gezeichnet mit dem Davidstern?
Polen, 2000, Dok.
Polnisch mit engl. Untertiteln „Marsch der Lebenden“
Polen, 2003, Dok.
OmU

Regie: Grzegorz Linkowski

Bilder:

1-3: Unter den Millionen jüdischen Opfern des Holocaust waren über 1,5 Millionen Kinder
4: Martin Bormann jr.
… Dich ruft Dein Kind (jidd.)

Sie wurden von ihren Eltern, Geschwistern und Großeltern getrennt. Sie wurden verschickt, und an Seele und Leib auf eine nicht wiedergutzumachende Weise verletzt. Als kleine wehrlose Menschen brachte man die Kinder zuerst in die Todeslager. Die meisten von ihnen starben sofort.

Die letzten Zeugen dieses Traumas aber sind Kinder, die überlebten. Noch heute weinen entwürdigte Frauen und Männer um ihre Liebsten, die sie vor 60 Jahren verloren habe. Das Weinen ist ziemlich leise und die Zahl derjenigen, die niemals über das Geschehene sprechen können, ist wohl unermesslich. Nach Erfahrungen von Hilfsorganisationen werden die Kriegsschäden mit zunehmendem Alter der Betroffenen dringlicher und lassen sich mehr und mehr in der Unsichtbarkeit von persönlicher Ohnmacht nieder.

Grzegorz Linkowski drehte zwei eher kürzere Dokumentarfilme, in denen Opfer- und Täterkind nur wenige, gequälte Worte finden. Es scheint, dass keine der beteiligten Sprachen (polnisch, deutsch, englisch) auch nur die richtigen Worte überhaupt besitzt. Die lastende Stummheit ist Äußerung davon, dass die Zeit allein keine Wunden heilt.

Auch scheint es, dass diese Dokumentationen bevorzugt solche Menschen erreicht, deren eigene Biographien von Verlust, Schmerzen und Abschied gesättigt sind. Aber wo sind die anderen?
Romuald Jakub Weksler-Waszkinel – Geboren 1943?

Er ist seiner (polnischen) Mutter dankbar, dass sie es ihm nicht früher gesagt hat. Er hätte es damals nicht verkraftet. Romuald Waszkinel, Priester und Lehrer an der Katholischen Universität Lublin, erfährt 1978, dass er ein Jude ist. Er ist zu dem Zeitpunkt 35 Jahre alt und hatte sich nach lebenslangen latent nagenden Zweifeln an seiner Identität endgültig dem Priestertum überantwortet. Wie sehr dieser Lebensweg die Erfüllung einer höheren Prophezeiung war, ist nun grauenhafte Gewissheit geworden. Denn seine leibliche jüdische Mutter, Batia Weksler, übergab 1943 ihr neugeborenes Baby der polnischen Familie Waszkinel, die damit ihr eigenes Leben riskierte, mit den Worten: „Ihr seid Katholiken und glaubt an Jesus, der ein Jude war. Ihr müsst mein jüdisches Baby retten, allein wegen dem, an den ihr glaubt. Und wenn mein Söhnchen erwachsen ist, wird es ein Priester werden.“

Der erwachsene Priester musste nun lernen zu sehen, dass sein leiblicher Vater, Jakub Weksler, höchstwahrscheinlich schon während der Zerstörung des Ghettos Swieciany erschossen wurde, während man seine Mutter und seinen Bruder Samuel vorerst nach Vilnius brachte. Von dort deportierte man sie vermutlich nach Majdanek, wo sie von den Nazis getötet wurden. Samuel war erst 4 Jahre alt.

Der Film zeigt nur wenige eingespielte Bilder als Belegmaterial und unterscheidet sich damit merklich von anderen Dokumentationen seiner Art. Wir sehen bevorzugt das bebende Gesicht des Priesters. Seine ständig unterdrückten Tränen lassen kaum den inneren Kampf erahnen, den es kostete, zur erweiterten Person des Romuald Jakub Weksler-Waszkinel zu werden („I carry within me the love of my parents–Jewish and Polish!“).

Die Brisanz des Aufzeigens von einem bewusst angenommenen Leben mit gerade diesen zwei Identitäten, und das im heutigen Polen, wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass das Thema „Polen und Juden“ längst kein abgeschlossenes Kapitel darstellt.

In einem Land, in dem noch 1991 jeder vierte Pole den Einfluss der Juden für zu groß hält, drehte Linkowski einen Film, der um die Welt ging. Denn Antisemitismus ist in Polen immer ein Thema. Der Holocaust nicht. (Lutz Eichler)
Martin Bormann jr. – „1930 war Adolf Hitler mein Pate.“

Martin Bormann, ehemaliger katholischer Priester und damaliger Religionslehrer, sah den Film, der um die Welt ging, und versuchte, mit Romuald Jakub Weksler-Waszkinel Kontakt aufzunehmen. Ein anstrengender und – glaubt man dem bei der Filmvorführung anwesenden Regisseur Grzegorsz Linkowski – emotional extrem aufwühlender Schritt. Waszkinel benötigte mehr als ein bewegendes Jahr, bis er einem Treffen mit Bormann zustimmte.

Jener trägt den Namen seines Vaters, der als „Reichsleiter der NSDAP“ und als „Sekretär des Führers“ in die deutsche Geschichte einging. Martin Bormann ist der Sohn eines der zum Tode verurteilten Hauptangeklagten des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals. Aufgewachsen mit einer streng nationalsozialistischen und antichristlichen Erziehung brach mit dem Ende des Drittes Reiches, und mit der Verdeutlichung der Schuld des Vaters am Völkermord, für den 16-jährigen eine Welt zusammen.

Der Regisseur Linkowski traf den Deutschen vorerst noch allein in Auschwitz, dem gewählten Treffpunkt für die erste Begegnung. Der nunmehr über siebzigjährige Bormann bewegt sich erstarrt und hölzern auf den Fluren der Baracken, einsam in Gesellschaft mit Tausenden von ausgestellten Schuhen und Taschen der hier Ermordeten. In genau abgezirkelten Sätzen und Formulierungen (Linkowski: Kein Satz war spontan. Jeder war abgesprochen.) erzählt er bewegungslosen Gesichtes seine Geschichte. Es scheint, als würden nur diese Gegebenheiten noch existieren: die Schuhe und Taschen der Getöteten, und das Leben-Müssen der Hinterbliebenen.

Bormann spricht in emotionaler Distanz vom liebevollen Vater, von dessen Definition des Nationalsozialismus als „Wille des Führers“ und vom Bruch mit allen Idealen zum Ende des Krieges. Alle gesprochenen Sätze sind begleitet von ausdruckslosen Gesten, von Blicken ins Leere. Dieses noch immer Nicht-Flüssige, Nicht-Fließende im Sprechen, im Reden, zeigt sich durch die Wahl der Worte, die sich zwangsläufig auf Superlative beschränken muss. Die Betroffenen befinden sich lebenslang innerhalb der emotionalen Katastrophe – Bewältigung nennt man das.

Nach den Wirren der Nachkriegsjahre fand Bormann zum katholischen Glauben, wurde Priester und Missionar der Herz-Jesu-Vereinigung im Kongo, ließ sich aber 1971 von den Ordensgelübden entbinden und arbeitete schließlich als Religionslehrer. Seit 1987 ist er Mitglied der Gruppe „Täterkinder – Opferkinder“ von Professor Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität in Israel.

Sein Schicksal, und vor allem das seines Vaters, hat der Religionslehrer in Gottes Hände gelegt. Ihm allein stehe es zu, einen Menschen endgültig zu verdammen. Infolgedessen müssen wir uns überlegen, ob die Tatsache, einen Gott zu brauchen, um die Greuel der Menschen zu verarbeiten, zu entschuldigen, zu verstehen Gottesbeweis genug ist? Oder ist diese nur Beweis für die Unmöglichkeit der Täterkinder, zu einem eindeutigen Resultat bezüglich der Frage zu kommen: Wie sehr bin ich auch schuldig, wenn ich durch den Täter (Vater) definiert bin, weil ich diesen lieb(t)e und brauch(t)e?

Dass letztlich der Nürnberger Prozess kein Racheakt der Sieger war, sondern die unausweichliche Notwendigkeit, dass die Menschen selbst die Fragen nach der Schuld beantworten müssen, drückt sich wohl auch darin aus, dass gerade die Juden, die aus den KZs kamen, nicht Gott für das Geschehene verantwortlich machen konnten.

Auch der Gottes-Mann Weksler-Waszkinel nicht. Dass man den Eltern nicht davonlaufen kann, hat auch er erfahren. Er gebe Bormann (trotzdem) nicht die Hand, sagt Weksler-Waszkinel kurz vor dem Treffen. Nicht hier in Auschwitz. Aber dann umarmen sie sich doch, mit sichtlicher und schwer unterdrückter Bewegung des einen und mit der gläsernen Erstarrung des anderen, auf diesem verwundeten Boden, den der Jude Weksler das Grabmahl seiner Mutter nennt.(Anja Szymanski)

Buchempfehlung:

„Leben gegen Schatten“ Martin Bormann (Sohn);
„Er wollte sein wie alle anderen“ aus „Ich habe keine Schuhe nicht“ Helga Hirsch

Bildquellen: www.shoa.de

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