Die Welt wird nicht mit einem Knall untergehen, sondern mit einem Wiseln

Fabio Luisi dirigiert Schütz, Monteverdi und Nono im Gewandhaus

Schütz, Monteverdi – Nono? Fabio Luisi – ganz conductor doctus – hatte einen bestechend schönen roten Faden durch das Programm gezogen: Wie sind Komponisten unterschiedlichster Prägung mit der Kategorie des Expressiven und des Sprachaffektes umgegangen? Wie werden in der Vorstellung des Komponisten die unendlich reichen Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Sprache in Musik umgesetzt? Welche Formen der Expression findet man für Texte verschiedenster Stilebenen? Das alles wird pointiert durch den gemeinsamen Bezug auf Italien.

Heinrich Schützens „Gesellenstücke“ – eine Auswahl aus den Italienischen Madrigalen – können bis heute durch die Konsequenz, mit der sie sich ihrer Vorlage nähern, erstaunen. Mit einem groß besetzten Chor, der jedem Authentizitätsfetischisten gleichsam den Mittelfinger entgegenreckt, dürfte man sie nur selten zu hören bekommen. Mit Venedig, Gabrieli und vor allem Schütz hat das Ergebnis daher nur wenig zu tun. Doch auch in der Projektion auf die große Leinwand enthüllen diese Madrigale ihre sinistre Kraft.
Monteverdis dramatisches Epos Il Combattimento di Tancredi e Clorinda in einer Einrichtung von Luciano Berio ist in mancher Hinsicht ein radikales Stück – von der weitgehenden Elimination der singend auftretenden Figuren Tancredi und Clorinda, der Aufwertung des epischen Erzählers bis zur Übertragung der Textausdeutung an ein kleines Ensemble ist dieses Werk sowohl Experimentierküche als auch selbst ein vollendetes Unikat einer neugeschaffenen Gattung, die ihresgleichen nicht hat.
Auch Luigi Nono stellte sich in seinem „Canto Sospeso“ dezidiert die Frage, mit welchen musikalischen Mitteln er seiner Textvorlage gerecht werden kann. Freilich handelt es sich dabei weder um die stilisierten Liebes- und Leidempfindungen der Italienischen Madrigale noch um die brutale, wenngleich poetisierte Erlösungsgeschichte Monteverdis. Und doch haben diese Texte einen gemeinsamen Nenner. Fragmente aus Briefen von Widerstandskämpfern, kurz vor der Hinrichtung an die Familien geschrieben – aus diesen Zitaten spricht zumeist eine unendliche Liebe zu den Adressaten, sowie der konsequente Glaube, das Richtige getan zu haben; dies verweist auf die Gedankengänge des Kreuzritters Tancredi, der im Sinne einer „höheren Idee“ seine unerkannte Geliebte im Kampf erschlägt. Der Schockeffekt ersteht freilich aus der Nichtfiktionalität dieser Texte. An die nahezu unmögliche Aufgabe macht sich Nono mit dem größten denkbaren Aufwand, der in der Dimension an den Bereich zwischen Berlioz‘ Requiem und Mahlers Achter gemahnt: Überdimensioniertes Orchester, Chor, Solisten.

Das Programmheft mag noch so hoffnungsvoll darauf hinweisen, dass es „nahezu ein Vierteljahrhundert“ dauerte, bis man „in aufwendigen Untersuchungen die meisten der strukturellen Rätsel von Il Canto Sospeso zu lösen“ vermochte. Die Komposition ist ein Kind ihrer Zeit: an Webern geschulte Logik, es hagelt Prinzipien und Relationen, die Fibonacci-Reihe gibt sich ein Stelldichein – bewaffnet mit dem analytischen Arsenal einiger Jahrgänge der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik dürfte der gut vorbereitete Hörer von einigem Beziehungszauber entzückt werden. Doch es hilft nichts – verborgen ist der Bauplan und nur das Resultat steht vor Augen und Ohren. Also nochmals: Ausdrucksmusik. Problematisch erscheint im Canto Sospeso heute neben der „moralischen Richtigkeit“ in höchster Potenz der utopische Wille, für Vaterland und eine gute Sache gern in den Tod zu gehen. Einmal jedoch gehen Text und Musik eine Verbindung ein, die sprachlos zurücklässt. Worte, die ohne Patriotismus, ohne die unmögliche, unmenschliche Utopie auskommen, die das Grauen nicht aussprechen um es umso namhafter zu machen. „Lebe wohl, Mutter, deine Tochter Ljubka geht fort in die feuchte Erde…“ – das persönliche Leid eines einzelnen ist hier nicht einer großen Idee geopfert – und nie zuvor sind Resignation und unendliche Traurigkeit so eindringlich komponiert worden. Ohne jedes Getöse, mit nur ein paar nackten Glockenklängen und Steicherflageoletts wirft Nono eine Skizze hin, die einerseits erlaubt, sich der Thematik zu nähern, ohne die politisch korrekte Keule über sich schweben zu haben. Nono („Ich glaube nicht, dass Musik wie die von Schostakowitsch eine Zukunft hat“) würde im Grabe rotieren, doch ist es ausgerechnet diese Disposition, die das Triviale mit dem ultimativen Entsetzen verschmilzt, die im Werk des verachteten Sowjetkomponisten ihre hundertfache Ausprägung erfahren hat.

T. S. Eliots Diktum, die Welt werde nicht mit einem Knall untergehen, sondern mit Winseln, ist hier unmittelbar hörbar gemacht. Mag Luisi hier auch in mancher Hinsicht gescheitert sein – es geschah mit Mut und Größe. Und dass diese Ausnahmewerke, zumal in dieser Zusammenstellung, überhaupt zu hören sind, das verdient höchsten Respekt.

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.