Mit Ideenreichtum zum Erfolg

Reisebrief: Ein Konzert der Superlative in Neubrandenburg mit Beethovens 6.Sinfonie

Einen musikalischen Wettkampf der Extraklasse bot die dritte Neubrandenburger Konzertnacht zwei Tage vor Rosenmontag 2004. Ein wenig erinnerte es an Fasching, dass der Chefdirigent der Neubrandenburger Philharmonie, GMD Stefan Malzew, noch vormittags einen Traktor durch die Vier-Tore-Stadt am Tollensesee steuerte, um auf diese Mammutveranstaltung aufmerksam zu machen. Und nicht weniger humorvoll wirkte der Empfang in der ausverkauften, großartig wiedererrichteten Marienkirche durch überraschend ländliche Dekorationen, ein betont bäuerliches Speiseangebot zwischendurch sowie ein Hahnenkrähen als Zeichen des Konzertbeginns. Doch bald wurde klar, dass sich all diese Vorbereitungen auf Beethovens 6. Sinfonie richteten, die gleich zweimal an diesem Abend erklang.

Nach einer brillanten Einstimmung, die das Concerto Brandenburg unter der Leitung des ehemaligen Thomaners und früheren Chefdirigenten des Leipziger Rundfunkchores Jörg-Peter Weigle gestaltete, sowie einem Zwischenspiel der bezaubernden jungen Pianistin Ragna Schirmer kam es zu einem kurzen Rededuell zwischen den beiden Dirigenten. Weigle berief sich auf seine aufführungspraktische Beschäftigung mit der Musik vor Beethoven und die historischen Instrumente seines 1998 gegründetes Spezialensembles, um den Intentionen des Meisters der Wiener Klassik so nahe wie möglich zu kommen. Malzew hingegen dachte offenbar an die größere Klangkraft und die Erfahrungen seines Orchesters mit der Musik des 19. Jahrhunderts, als er romantische Züge des Werkes hervorhob. Beethoven sei es weniger um jene „heiteren Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“ gegangen, die der Komponist in der Überschrift des ersten Satzes der als „Pastorale“ bezeichneten Sinfonie erwähnt, als vielmehr um die Artikulation von Traurigkeit und Resignation angesichts seiner fortschreitenden Ertaubung und der damit verbundenen menschlichen Isolation.

Diese stark von einander abweichenden Standpunkte schienen sich im ersten Moment auszuschließen und steigerten deshalb die Aufmerksamkeit der Zuhörer und die Motivation der beiden Orchester. Bestens vorbereitet präsentierte sich die Neubrandenburger Philharmonie schon mit den ersten Takten. Zu welch großartiger Klangmagie sich aber vor allem die Streicher zu steigern vermochten, zeigte sich besonders in den betörend schön gespielten Binnensätzen. Mit wundervoll melancholischen Züge der „Szene am Bach“ erinnerten die Musiker an Beethovens „Mondschein-Sonate“ und mit der Dämonie von „Gewitter, Sturm“ gar an Carl Maria von Webers „Wolfsschlucht-Musik“. Dass Stefan Malzew im optisch wie akustisch höchst attraktiven Raum zudem feinste Nuancierungen auskostete, verstand sich beinahe von selbst.

Das in Berlin ansässige Concerto Brandenburg fand demgegenüber in den Ecksätzen zu größter Intensität und Spielfreude. Die schon von Beethoven vorgegebenen raschen Tempi forderten von allen Mitgliedern des Ensembles ein enormes Maß an Virtuosität und führten gerade die Naturhörner bis an die Grenze des überhaupt Spielbaren. Das hinderte Jörg-Peter Weigle allerdings nicht, wichtige Themengestalten sehr plastisch zu modellieren und einen faszinierend homogenen Gesamtklang zu formen, der das Heitere, von praller Lebenslust Erfüllte hervorhob.

Der riesige Beifall am Ende jeder der beiden Aufführungen zeigte deutlich, dass beide Auffassungen des Werkes zu überzeugen vermochten und die unglaubliche Fülle und Tiefe der Einfälle Beethovens zur Entfaltung brachten. Die Ovationen innerhalb der fünfstündigen (!) Veranstaltung galten aber unverkennbar auch dem Mut der Neubrandenburger Philharmonie, sich der Uraufführung eines Orchesterwerkes des jungen Berliner Absolventen Leo Dick zu stellen. Mit seinen als „Höhenlinien“ betitelten farbenreichen Gedanken über die „Pastorale“ folgte der Schüler von Friedrich Goldmann offenbar dem Formverlauf der Sinfonie und belegte auf seine Weise die Aktualität des genialen Beethoven, dessen gesamtes sinfonisches Werk während der nächsten drei Jahren als Interpretationsvergleich in Neubrandenburg vorgestellt wird!

Konzert der Superlative in Neubrandenburg

Beethoven, 6. Sinfonie in vergleichender Interpretation
Leo Dick „Höhenlinien“

21.02.2004, Marienkirche, Neubrandenburg

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