Wolfgang Engel inszeniert Verdis „Aida” (Sebastian Schmideler)

Giuseppe Verdi: „Aida“ (Premiere)
Regie: Wolfgang Engel
Oper Leipzig
13. März 2004

„O, ich ertrag‘ nicht diese weißen Larven!“
Unverdient geteiltes Echo auf Wolfgang Engels durchdachte „Aida“-Inszenierung

Jubel und Buh-Rufe am Premieren-Abend von Giuseppe Verdis opus magnum. Lob und Begeisterung für die gelungene musikalische Aufführung neben höflichem Wohlwollen, aber auch hörbarem Unmut über das Inszenierungs-Team. Wieder einmal zeigte sich, dass der Prophet im eigenen Land wenig gilt.

Dabei hätte es die unverbesserlichen Buh-Rufer nur ein Quäntchen mehr an Empathie gekostet, um das schlüssige und sinnfällige Konzept der zweiten Verdi-Inszenierung des Leipziger Schauspiel-Intendanten Wolfgang Engel zu durchschauen. Denn Engel entgeht der Verführung einer monumentalen Historienoper nicht nur elegant, sondern er verlagert das Schwergewicht auf eben jenen neuralgischen Punkt, der Verdi selbst der betont wichtigste war: es geht ihm um die Chancen der Liebe im inneren Konflikt mit der privaten, öffentlichen und religiösen Macht.

Der klar herausgestellte Nexus von Engels Inszenierung erweitert die Vorlage in dieser Hinsicht eigenständig in Form einer originellen und originären Auseinandersetzung mit Libretto und Musik. Das geschieht auf zwei Ebenen. Erstens: so wie im Libretto der Grundkonflikt der Tragödie in genialer Einfachheit verdichtet und gerade dadurch aufs Höchste verfeinert wird, reduziert auch Engel mit großem Geschick und stellt ein in deutlichen Linien versachlichtes Menschheitsdrama auf die Bühne. Engel lässt damit einerseits der kammermusikalisch privaten Seite der Musik Verdis den größtmöglichen Freiraum. So eröffnet sich vor dem inneren Auge des Hörers die fatale Konstellation: hier die ihrer Liebe gewisse, aber zur Sklavin erniedrigte äthiopische Königstochter Aida, da ihre hochgeborene Gegenspielerin Amneris, Tochter des Pharaos, mächtig, aber unerwidert liebend, dort der siegreiche Krieger Radames, Ziel der Liebe beider Frauen, aber allein Aida zugetan.

Unterstützt von einem kubistisch-futuristischen Bühnenbild (Horst Vogelgesang), das den im Libretto unbestimmt gebliebenen pharao-ägyptischen Schauplatz angemessen in einer Raum-Kollage flächenhaft andeutet, entsteht ein Schwarz-Weiß-Spiel, das nur von den unaufdringlichen Farben der platten Historismus vermeidenden und teils in die Moderne weisenden Kostüme (Katja Schröder) dezent aufgebrochen wird. Diese sachlich kühle Bühnen-Atmosphäre zwingt den Zuschauer, sich ganz in das bewegte und bewegende Innenleben der Protagonisten einzufühlen.

Zweitens: Engel lässt dem Verhängnis freien Lauf und greift nur dort ein, wo sich eine weitere Dimension um den sich ganz von selbst entwickelnden Grundkonflikt lagert. Dort, wo die Macht der Priester, der Könige und der Öffentlichkeit in Szene gesetzt wird, hat die Inszenierung ihre zweite starke Seite. Doppelsinnig sperrt Engel den Priester-Chor in einen zu klein wirkenden Tempel und lässt die ausufernd schwelgenden Gesänge – und damit eine der monumentalen Seiten der Musik – durch die Begrenztheit und Enge des Ortes in das einzig folgerichtige Verhältnis treten. Auch das von Engel eingeführte Menschenopfer steht nicht im Widerspruch zur Gesamtkonzeption der Oper, sondern ist Ausdruck für den archaischen Fundamentalismus des dargestellten antiken Kults. Die nüchterne Kargheit der Bühne, die kalte Hybris der in scheinbar unschuldigem Weiß maskierten Priester, deren schwarzer Plissee-Umhang und der die archaische Haltung symbolisierende ägyptische Kopfschmuck (dessen Vorlage eine Plastik des Sohnes der Nofretete bildete) – all das öffnet sachlich die Augen für die so oft missverstandenen, widersprüchlichen großen Chorszenen.

Der absolute Clou gelingt Engel allerdings – wie in einer guten Interpretation nicht anders zu erwarten – mit der Inszenierung des Triumphmarsches, mit dem Engel der Premieren-Gesellschaft in gut Shakespearescher Manier ihr eigenes Spiegelbild vor Augen hält, indem er sie Knall auf Fall in das Geschehen hineinzieht. Da platzt mit großem Effekt mitten im hell erleuchteten Zuschauerraum eine Konfetti-Bombe für die Spaßgesellschaft, von strahlend brillanten Aida-Trompeten-Klängen umflort, die von den Logen aus ertönen. Der mit vollen Sektgläsern beladene Bankett-Tisch einer modernen Kriegs-Sieg-Dinner-Party erweist sich als die Oberfläche eines Käfigs, in dem die nackten, mit schwärenden Wunden übersäten äthiopischen Kriegsgefangenen eingepfercht sind.

So gesehen avanciert der Triumphmarsch zum streitbaren Triumph der Inszenierung. Diesen effektvollen Musik-Rausch vor dem Hintergrund von Engels gelungener, garantiert elefantenfreier Pointe, die sich selbst erhöhende Sieger in Party-Stimmung vor dem Anblick eines versklavten und gepeinigten Volkes zeigt – diese Bilder vergisst man nicht so schnell. Der im Gedächtnis fest haftende Eindruck rückt zum aktuellen Sinnbild für die Gegenwart auf. Doch nicht nur dieser Effekt gelingt Engel. Besonders schlüssig ist auch der Einfall, Amneris ihre Schuld dem Oberpriester Ramphis am Ende der Gerichtsszene dadurch gestehen zu lassen, dass sie sich von Ramphis ein Schwert aus der Hand nehmen lässt. Derartige Ideen berühren unglaublich stark.

Das wohlproportionierte Zusammenspiel von Kostüm, Bühnenbild und Inszenierung verdient besonders dort hervorgehoben zu werden, wo sich unmittelbare Bezüge zu Text und Musik aufzeigen lassen. Insbesondere die Masken der Priester – eben die von Amneris am Ende nicht mehr ertragenen weißen Larven – werden zu feinsinnigen Symbolen der sehr subtilen Aussagen der Oper. Wenn Verdi etwa den Priester-Chor einen gregorianischen Gesang anstimmen lässt, wird der Hörer auch heute noch durchschauert.

Unter den sängerischen Leistungen ragt besonders die Partie der Aida, die Hasmik Papian kurzfristig übernommen hat, heraus. Sie versteht es, die Dramatik des Konfliktes unaufdringlich hörbar zu machen. Der ebenfalls kurzfristig engagierte italienische Heldentenor Piero Giuliacci hat eine schöne, farbige Stimme – nur singt er Szenen begeisterter Kriegswilligkeit mit ebensolcher Inbrunst wie er Aida die zartesten Bekundungen seiner Liebe gesteht. Lidia Tirendi gibt eine selbstsichere und kräftig gesungene Amneris, die durch Klarheit und Fülle der Stimme beeindruckt. Andrzej Dobber als Amonasro ist unverkennbar die stärkste und größte Stimme des Abends, von deren Bühnenpräsenz und breit gefächertem Timbre man einfach nicht genug haben kann. Nur der junge Bass Ain Anger hält diese stimmliche Qualität noch auf ähnlichem Niveau.

Unausgewogen ist lediglich das Verhältnis der Dynamik von Sängerstimmen und dem teils wuchtigen Klang-Spektakel des Gewandhaus-Orchesters. Hier wünschte man sich, dass Orchester und Sänger sich besser auf einander abstimmten. Der Chor der Oper überzeugte hingegen durch Professionalität.

Am Ende der Inszenierung steht ein prägnantes Bild. Erhöht über alle irdischen Sorgen des „Tals der Tränen“ finden Aida und Radames in einer buchstäblich über alle Ebenen der Bühne erhabenen Grabkammer den Liebestod. Draußen jammert Amneris um Frieden. Was für ein Bild! – es war Kierkegaard, der seinen Lesern einmal die Frage stellte, welcher Mensch wohl unter dem Grab mit der Aufschrift „der unglücklichste Mensch“ liege. Die Antwort war frappant und kommt der Antwort Wolfgang Engels gleich: das Grab ist leer, der unglücklichste Mensch lebt – es ist Amneris, die im Schatten der Mondnacht hockend um Gnade fleht und nicht zur inneren Ruhe kommen kann, während das aller Sorgen enthobene Liebespaar einer möglichen Seligkeit im Tod entgegensieht.

(Sebastian Schmideler)

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