Fatih Akin und seine Filme

„Gegen die Wand“: Ein Porträt des Filmemachers Fatih Akin

Birol Ünel, Sibel Kekilli und Fatih Akin (Foto: Andreas Thiel)

Mit 25 Jahren machte ihn sein Spielfilmdebüt Kurz und schmerzlos zum Jung-Star-Regisseur. Seitdem hat Fatih Akin, der waschechte Hamburger türkischer Abstammung, mit den Filmen Im Juli und Solino erfolgreich seine Vielseitigkeit unter Beweis gestellt. Gegen die Wand, sein persönlichster Film, wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

Auf den ersten Blick ist der Film eine Liebesgeschichte und eine Milieustudie über türkische Einwanderer und deren nachfolgende Generation. Doch Akin führt diese Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte so bedingungslos, dass das Ergebnis eine weitaus allgemeinere Reflexion ist über Kultur und Traditionen. Für diesen Kraftakt hat Akin zurückgefunden zu der überwältigenden Härte und Unmittelbarkeit seines frühen filmischen Ausdrucks. Schonungslos bricht in den Film Gewalt und Sex herein. Nur Zärtlichkeit und Liebe sind subtiler, schwieriger und schöner. Ungeschönt sind wieder die Bilder und auch die Geschichte, die so verrückt und alltäglich eben „das ganz normale Leben“ schreibt.

Desillusioniert und mit der Welt abgeschlossen fährt der 40jährige, volltrunkene Cahit (Birol Ünel) mit dem Auto frontal gegen eine Wand. Als er aufwacht, befindet er sich in der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses. „Beenden sie doch ihr Leben.“, muss sich Cahit vom Arzt vorwerfen lassen, „Aber, dafür brauchen sie ja nicht zu sterben.“ Nur einen Augenblick später beginnt für ihn draußen vor dem Behandlungszimmer ein neues Leben und der schwierige Abschied vom alten: „Willst du mich heiraten?“, überrumpelt ihn die junge, hübsche Sibel – wunderbar frech wie auch zerbrechlich gespielt von Sibel Kekilli. Sie trägt selbst einen Verband um den aufgeschlitzten Arm und erkennt in dem fremden Cahit einen trickreichen Ausweg, ohne erneuten Selbstmordversuch dem beklemmend traditionsverhafteten Elternhaus zu entfliehen. „Ich bin jung, ich will ficken, verstehst du?!“, erklärt sie ihm später ihre Not; denn ihre Eltern dulden ihr freizügiges Leben nicht. Aus Angst um sie willigt Cahit in die Scheinehe ein. Sie wohnen zusammen, aber jeder lebt sein eigenes Leben; beinahe täglich hat Sibel eine neue Affäre. Es kommt, wie es kommen muss. Seine Coolness schützt den zerzausten, mürrischen Selbstzerstörer Cahit nicht vor der strahlenden Lebensfreude Sibels. Er verliebt sich; doch bis auch Sibel erkannt hat, wie sehr sie ihren Ehemann liebt, sitzt er bereits im Gefängnis. Im Affekt erschlug er einen ihrer Liebhaber. Sie verspricht, auf ihn zu warten. Bevor sie sich jedoch wiedersehen, hat Sibel in Istanbul ein neues Leben begonnen.

Die Schauspieler und die filmischen Wurzeln

Mit dem in Berlin lebenden, türkischen Schauspieler Birol Ünel und der von türkischen Eltern in Heilbronn geborenen Sibel Kekilli ist Akin ein ungewöhnlich spannendes Duo gelungen. All die Naivität, die die unerfahrene Kekilli verkörpert und unschuldig schön macht, kontrastiert Ünel mit seinem drastisch durchdringenden Charisma. „Wie Kurt Cobain und Jim Morrison zelebriert er die poetische Selbstzerstörung“, schwärmt Akin. Aus diesem Spannungsverhältnis erwachsen auch die schönsten Momente des Films: die zarten, kaum definierbaren Annäherungen, die schüchtern behutsamen Berührungen wie die seiner Lippen, wenn Sibel Blut von ihnen abwischt. Diese Szenen lassen trotz der sonst unverhältnismäßigen Härte den sensiblen, sanftmütigen Filmemacher Fatih Akin erkennen, der seine filmischen Wurzeln im New American Cinema sieht. Das Manifest dieser Bewegung von 1962 endet mit einem Satz, der wortgetreu die Ästhetik seines neuen Films widerspiegelt: „Wir wollen keine falschen, polierten, glatten Filme – wir möchten sie rau, unpoliert, aber lebendig; wir wollen keine Filme in Rosa – wir wollen Filme in der Farbe des Bluts.“ Präzise verortet finden sich die Namen der Vorbilder, die Akin beeinflussten, im nachfolgenden New Hollywood: Scorsese, Cassavetes, Coppola und Lumet. Anlehnen möchte sich Akin auch an das neue türkische Kino: „Der türkische Neo-Realismus hat echte Meisterwerke hervorgebracht. Es sind sehr ernste, sehr heftige Filme, in denen Komödie und Tragödie ganz nah beieinander liegen – eine ganz, ganz große Kunst.“, erzählt Akin. Sein persönlicher Realismus ist besonders auch durch die Kamerabilder Rainer Klausmanns (Fitzcarraldo, Das Experiment) geprägt, die weder Oberflächenglätte zeigen noch artifizielle Raffinesse, sondern sich in eben jener dokumentarischen Distanz bewegen, die der Schauplatz Hamburg-Altona abverlangt. Der Schnitt des Engländers Andrew Bird, mit dem Akin bisher jeden seiner Filme machte, kommt diesem spezifischen cool charmanten Milieutreiben mit entsprechendem Rhythmus entgegen.

Die anderen Filme

Alles atmet die Luft Altonas, das machte bereits die Faszination von Kurz und schmerzlos (1998) aus. Auch er zeugt von einem Esprit, der Hamburg weitaus näher kommt, als viele lokale und alteingesessene Filmschaffende es von sich behaupten können. Obwohl auch jene Geschichte, die vom Teufelskreis der Kriminalität auf dem Kiez erzählt und für zwei der drei Freunde mit dem Tod endet, mit Protagonisten spielt, die sich darauf berufen, neben ihrer Identität als „Hamburger Jung“ auch Serbe, Grieche und Türke zu sein. Die Suche nach der eigenen Identität, die sich in der Zerrissenheit zwischen Nationalitäten und Kulturen entspinnt, das war bisher immer das große Thema in Akins Filmen, die sich vom Gestus der Filmsprache jedoch deutlich unterscheiden. In seinem zweiten langen Spielfilm, Im Juli (2000), einem romantischen Road-Movie mit Moritz Bleibtreu und Christiane Paul, ergründet ein langweiliger Lehrer auf einer wilden Reise von der Elbe bis an den Bosporus sein verborgenes aufregenderes Ich. In Solino (2002), eine zwei Dekaden umspannende Geschichte über eine italienische Gastarbeiterfamilie mit Bleibtreu und Barnaby Metschurat, finden zwei Brüder zu ihrer eigenen Erfüllung zwischen der elterlichen Pizzeria im Ruhrpott, der Traumvorstellung, Dokumentarfilmer zu werden, und der Freude am bürgerlichen Leben mit einer Frau und eigenen Kindern im italienischen Heimatdorf. Diese beiden Filme zeigen jedoch einen Fatih Akin, der auch den Kitsch nicht scheut, der sich sympathische Klischees zu eigen macht und damit den einfachen, heimeligen Wohlfühl-Effekt garantiert.

„Gegen die Wand“

Zwischen Verurteilung und Faszination

Gemeinsam ist allen seinen bisherigen Filmen aber, dass die Suche nach sich selbst durch die Fremde oder Ferne immer einen kompletten Lebenswandel zur Folge hat. Durch diese charakterlichen Entwicklungen und deren Konsequenzen gibt vor allem Gegen die Wand anhaltend Stoff für Überlegungen. Der Film ist eben nicht nur reine Anklage anti-moderner Tradition, sondern entwickelt ebenso eine Sympathie für sie und ein zwingendes Bedürfnis nach Kultur, die trotz der Verzichte schließlich auch das Geschenk der Zugehörigkeit mit sich bringt. Eigentlich sollten Cahit und Sibel nach dem ursprünglichem Drehbuch wieder zurück in ihre Ausgangssituation fallen. Da der Film aber wie sonst selten chronologisch gedreht wurde, ermöglicht er das besondere Erlebnis, einerseits die Entwicklung und den Reifeprozess der Filmfigur wie auch der Schauspielerin Sibel zu beobachten und anderseits somit nachzuvollziehen, dass das ursprüngliche Ende nach dieser Veränderung so nicht mehr hätte stattfinden können. Akin wählte letztlich ein halboffenes Ende, das im Urteil über die Traditionen weniger verurteilend, dafür weitaus unklarer und nachdenklicher ist.

Die eigene Heimat

Welchen Bezug Akin zu seiner eigenen Herkunft hat, eröffnet auch sein Dokumentarfilm Denk ich an Deutschland – Wir haben vergessen zurückzukehren (2000), in dem er seine eigenen Eltern und Verwandten in Hamburg und der Türkei interviewt. Sein Vater kam in den 60er Jahren als Fabrikarbeiter in die Hansestadt, dessen Frau, Fatihs Mutter, arbeitete in Deutschland zunächst als Reinigungskraft, bis sie ihren ursprünglichen Beruf der Lehrerin auch hier wieder ausüben durfte. Für den 1973 in Hamburg geborenen Fatih und seinen Bruder Cem, der im Film den dogmatischen Bruder Sibels spielt, hieß das, dass sie eines Tages mit der Familie in die Türkei zurückkehren würden, obwohl für beide diese Frage nie ein ernsthafter Gedanke gewesen ist. Ihre Heimat ist Hamburg, hier hat Fatih auch die Hochschule für Bildende Künste besucht, und Hamburg ist auch für seine Eltern irgendwann zur Heimat geworden. Wenn er aber seine Verwandten aufsucht und sie von ihren Gefühlen sprechen, warum sie in Deutschland blieben oder wieder zurückkehrten in die Türkei, dann macht Akin das mit so viel Einfühlungsvermögen und Offenheit, dass er es schafft, Interesse und Neugier für alle Seiten zu erwecken. Fatih Akin ist also selbst noch auf der Suche nach seiner Identität. Und diese Wirklichkeit hat ihn in Gegen die Wand einholt. Der Film hat sich verselbständigt und sich sein eigenes Ende geschrieben.

Die gute und die böse Kultur

Am Schönsten wirkt diese Sympathie mit den türkischen Traditionen durch das vor dem Hintergrund Istanbuls platzierte, folkloristische Orchester Selim Seslers und der Sängerin Idil Üner, die den Film episodenhaft durch Musik-Akte unterteilen – ein Stilelement klassischer Theater-Tragödien. Zugleich nimmt der Film immer aber auch einen ironischen Blick auf viele traditionelle Umgangsweisen ein und entlarvt damit ihre Lächerlichkeit. So entgegnet Cahit drei Verwandten Sibels als sie unentwegt vom „Ficken“ im „Puff“ reden, warum sie eigentlich nie ihre eigenen Frauen „ficken“ würden. Dieses Wort aber im Zusammenhang mit den eigenen Ehefrauen veranlasst die drei zum zornigen Wutausbruch. Zum lakonischsten Kommentar Akins gegenüber solchen Verbissenheiten kommt es während eines Gesprächs zwischen Cahit und Sibels Bruder: „Ich musste die Ehre retten.“, meint der Bruder. – „Und“, antwortet ihm Cahit, „habt ihr sie gerettet?“
Am wenigsten gelernt haben aber die verantwortlichen Redakteure der BILD-Zeitung, die einmal mehr einen vernichtenden Journalismus zutage legten und in selten dagewesener Weise eine imfame Hetzjagd auf die junge Schauspielerin Kekili betrieben, weil diese in der Vergangenheit in pornographischen Filmen mitwirkte. Mit so viel Respektlosigkeit wird jede Möglichkeit der Verständigung mutwillig verspielt.
Der Film ist also in zweierlei Weise eine schwierige Liebesgeschichte: zwischen Sibel und Cahit und zwischen Fatih Akin und seinen türkischen Wurzeln. Dass eine Liebe genauso drastisch sein kann wie belebend, gut und böse zugleich, das hat Fatih Akin in Gegen die Wand bewiesen.

Gegen die Wand

Deutschland, 2003, 121 min
Regie und Buch: Fatih Akin
Kamera: Rainer Klausmann
Schnitt: Andrew Bird
Darsteller: Birol Ünel, Sibel Kekilli

Kinostart: 11. März 2004


Filmografie – Fatih Akin

1995: Sensin-Du bist es! (Kurzfilm; Regie)
1996: Getürkt (Kurzfilm; Regie)
1997: Trickser (TV-Film, Darsteller, Regie Oliver Hirschbiegel)
1997: Back in Trouble (Darsteller, Regie Andy Bausch)
1997: Überleben in der Großstadt (Kurzfilm, Darsteller, Regie Holger Braack)
1998: Die Rosenfalle (Kurzfilm, Darsteller, Regie Thorsten Wettcke)
1998: Kurz und schmerzlos (Regie)
1998: Der letzte Flug (Kurzfilm, Darsteller, Regie Silvana Lombardi)
1998: Kismet (Kurzfilm, Darsteller, Regie Andreas Thiel)
2000: Im Juli (Regie)
2000: Denk ich an Deutschland – Wir haben vergessen zurückzukehren (TV-Dokumentation; Regie)
2001: Ein göttlicher Job (Darsteller, Regie Thorsten Wettcke)
2001: Das Experiment (Darsteller, Regie Oliver Hirschbiegel)
2001: Die Liebenden vom Hotel Osman (Kurzfilm, Darsteller, Regie Idil Üner)
2001: Planet der Kannibalen (Darsteller, Regie Hans-Christoph Blumenberg)
2002: Solino (Regie)
2003: Gegen die Wand (Regie)


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