Zweimal Vier macht Zwei

Das Gewandhausorchester mit Herbert Blomstedt spielt Werke von Sibelius und Tschajkowskij

Interessante Wahl, die 4. Sinfonie von Jean Sibelius im Familienkonzert zu geben. Ist daran gedacht worden, eine Hotline für besorgte Eltern einzurichten, deren Kinder sich schweigend zurückgezogen haben und nun mit Faltenwurf auf der Stirn jegliche Nahrung außer trockenem Knäckebrot und Gänsewein einsilbig von sich weisen? Im Zeitalter der Zivilklage ist so etwas eine riskante Angelegenheit. Ein mysteriöses Stück, dunkel wie ein verregneter Novemberabend, dabei von einer durchsichtigen eigenbrötlerischen Schönheit, die in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht. Schwer krank sei er gewesen, der große Finne, schlecht sei es ihm ergangen, verrät die Biographie von Erik Tawaststjerna, und Sibelius‘ lebenslange Affäre mit dem geliebten Freund Alkohol sei es aus medizinischen Gründen auch für eine knappe Dekade auf Eis gelegt worden. Wie auch immer – es ist die Musik, die zählt. Laut und spröde beginnt es mit einem Kontrabassthema, das sofort wieder verebbt und einer entsetzlich traurigen Cellomelodie Platz macht. Bedrohlich-schön ziehen die Klangwolken in Moll vorüber und werden regelmäßig von nie gehörten Dissonanzen zerrissen. Dann und wann zerreißt der graue Himmel und lässt für ein paar Momente ein fahles Licht durchscheinen. Bei aller Tragik bleibt man in Sibelius‘ zerklüfteter Klanglandschaft nicht ungern gefangen; beeindruckend, wie Sibelius die Balance zwischen sinfonischer Entwicklung und Klangfarbenmelodik hält, wie frei der Umgang mit „Formen“ und „Regeln“, die für einen Komponisten seines Kalibers ohnehin nie Gültigkeit besitzen, hier ist. Und Blomstedt nahm dieses Unikum von Sinfonie, wie sie sein soll, tappte nicht in die Falle des reinen, gurgelnden „Natur“-Klanges, sondern hielt die Waage zwischen Transparenz und Mystik und so gelang ihm eine Vierte von eisiger, wundersamer Pracht.

Im Großen Konzert kombiniert Herbert Blomstedt die dunkelste aller Sinfonien des Jean Sibelius mit einer ganz anderen „Vierten“. Dreiunddreißig Jahre zuvor von Peter Tschajkowskij fabriziert, ist sie ein weiteres „Bekenntnis“, das sich allerdings deutlich leichter entschlüsseln lässt, als das enigmatische Werk des Finnen. Die etwas konventionelle Motivik – alles was der Fundus der Musikgeschichte an „Schicksals“-Floskeln hergibt – wird durch Tschajkowskijs exzeptionelles Talent zur Instrumentation und Melodie mehr als aufgewogen. Ein kleines Wunder ist vor allem das pizzicato-Scherzo, jener knappe, duftig leichte Satz, der zumindest in Tschajkowskijs sinfonischem Oeuvre seinesgleichen nicht hat. Im Schlusssatz, der das russische Volkslied von der Birke auf dem Feld bis zur Parodie zitiert, aufbläst und schließlich platzen lässt, drehte Blomstedt das Orchester bis zum Anschlag auf und stellte so leider sicher, dass von den Streichern nichts mehr zu hören war und der Schluss in einem Strafgericht aus Blech und Triangeln unterging. Das machte aber nichts – die alte Konzertregel, gemäß derer sich der Schlussapplaus proportional zur Phonstärke des Finalsatzes verhält, bewies einmal mehr ihre Gültigkeit.

Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 4 a-Moll op. 63
Peter Tschajkowskij: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Gewandhausorchester
Herbert Blomstedt, Leitung

01. April 2004, Gewandhaus, Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.