Gus Van Sants prämierter Film „Elephant” in den deutschen Kinos (Roland Leithäuser)

Elephant
USA 2003, 81 Min.
Drehbuch und Regie: Gus van Sant
Kamera: Harris Savides, A.S.C.
Darsteller: Alex Frost, Eric Deulen, John Robinson, Timothy Bottoms u.a.

(Bilder: Kinowelt Filmverleih, HBO Films)
My own private Columbine
Gus Van Sants meisterhafte Filmparabel Elephant

Gus Van Sant jr. ist der Stachel im Fleisch der amerikanischen Filmindustrie. Nicht mehr und nicht weniger. Berufsjugendlich trotz des reifen Alters von zweiundfünfzig Lebensjahren, bekennend homosexuell und unbeirrbar bei der Realisierung ihm wichtiger Projekte. In den späten neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schien es eine Zeitlang so, als sei der ewige Outlaw Van Sant mit seinen cineastischen Hymnen an das Erwachsenwerden in Hollywood angekommen: in Filmen wie Good Will Hunting (1997) und Finding Forrester (2000) schien die Mimikry zum Box-Office-Regisseur vollzogen, ein Remake von Psycho untermauerte diesen Wandel. Scheinbar.

Seit seinen größten filmischen Erfolgen in jener Zeit ist es wieder stiller um den alten Wilden geworden, der zu Beginn seiner Karriere schon mit Filmen wie Drugstore Cowboy und My Own Private Idaho reüssierte und ganz nebenbei etwas abseitigen Teenie-Idolen wie Matt Dillon und River Phoenix den Weg nach oben ebnete. Auch diesem Prinzip ist sich Van Sant stets treu geblieben. Seine Arbeit mit Talenten wie Ben Affleck und Matt Damon wird selten genug als das erkannt, was sie wirklich war: die Risikobereitschaft eines Filmbesessenen. In seinem Film Gerry (2002), der in Deutschland nach wie vor seinem Erscheinen auf Leinwand harrt, ist wieder Matt Damon zu sehen, ein Independent-Werk feinster Machart, das kaum einen Fan von Good Will Hunting vor den Fernseher oder die Leinwand locken würde. Van Sant verweigert sich mit solchen Werken konsequent einer Erwartungshaltung von Publikum wie Industrie und scheint in der paradoxen Position angekommen zu sein, ein Regisseur von „teenage angst“-Filmen zu sein, die von der eigentlichen Zielgruppe nicht goutiert werden.

Mit Elephant, seinem jüngsten Werk, das im vergangenen Jahr zum Leidwesen manch eines Kritikers Lars von Triers Dogville auf dem Weg zur goldenen Palme von Cannes ausstach, verhält es sich ganz ähnlich. Auch wenn der deutsche Verleih bereits akribisch die Erschließung des Films durch interessierte Gymnasialkurse vorbereitet, wird der Film vor den Augen der jugendlichen Klientel keine Gnade finden. Zu verstörend sind die Bilder des nicht einmal eineinhalb Stunden langen Films, als dass sie das Zeug zum Kassenmagneten hätten.Elephant erzählt in inhaltlicher Verbundenheit zum Littleton-High-School-Massaker von 1999 den Ablauf eines Schultags an einer namenlosen High-School in den USA. Am Ende dieses Tages wird es ein gutes Dutzend Opfer zu beklagen geben, gerichtet von der Hand zweier ihrer Mitschüler, des leidlich musikalisch begabten Alex (Alex Frost) und des rein äußerlich an den Rapper Eminem gemahnenden Eric (Eric Deulen). Elephant wird die beiden Attentäter über den Tag begleiten, genau wie einige ihrer Mitschüler, deren Eltern und den Schuldirektor. Es sind berückende und zugleich traumatisierende Bilder einer aus ihren Fugen geratenen Schulwelt, welche die wacklige Handkamera von Harris Savides für den Film eingefangen hat.

Sie erzählen von Liebe, Scheitern, Ausgestoßensein und Töten an einem einzigen Tag. Dieser beginnt mit der Ankunft eines der Protagonisten des Films, John McFarland (John Robinson) an der Schule, der von seinem offenkundig betrunkenen Vater (Timothy Bottoms) dort abgeladen wird. John betritt die Schule verspätetet und teilt seinem Bruder per Telefon mit, er möge den fahruntüchtigen Vater abholen, die Autoschlüssel seien im Sekretariat der Schule hinterlegt. Danach holt er sich bei Schuldirektor Luce (Matt Malloy) einen Rüffel für sein Zuspätkommen ab. Diese einführenden Szenen des Films, der Gegenschnitt auf den sommerlichen Himmel Oregons, die Ruhe und Unaufgeregtheit, mit der hier bereits menschliche Extremsituationen transportiert werden, wird sich im folgenden eindringlich und beinahe bis ins Unerträgliche steigern. In Johns jungenhaftem, von halblangen blonden Haaren umrahmtem Gesicht spiegelt sich die ganze Leichtigkeit der Existenz, die am Ende dieses Tages ein für allemal ausgelöscht sein wird. Van Sant und die Kamera bleiben noch eine Weile bei John, begleiten ihn durch ein wahres Labyrinth von Gängen, in dem sich das High-School-Leben abspielt. Flüchtige Begegnungen, eine still geweinte Träne, dann lässt die Kamera unvermittelt von ihm ab und wendet sich anderen Schülern zu.

Obschon im strengeren Sinne antidramaturgisch, folgt Van Sant in Elephant dem alten filmischen Regieeinfall der wechselnden Perspektiven, die sich mitunter streifen, aber durch ihre zeitliche Einheit nicht überladen wirken. Sehen wir John im ersten Teil des Films bei einer Begegnung mit und aus der Perspektive von Elias (Elias McConnell), einem Mitschüler und Amateurphotographen, so wird dem Zuschauer die gleiche Szene noch einmal aus Johns Perspektive, unmittelbar vor Verlassen des Schulgebäudes begegnen, und, ein drittes Mal, aus dem Blickwinkel der von ihren Mitschülerinnen gehänselten Michelle, als sie sich auf dem Weg in die Schulbibliothek befindet. Van Sant gelingt es, den Reiz einer solchen Erzählstruktur zurückzugewinnen, gewissermaßen anknüpfend an Kurosawa; im Gegensatz zu Rashomon ist es Elephant aber nicht darum bestellt, divergierende Erklärungs- oder Behauptungsmuster aus den einzelnen Perspektiven abzuleiten. Es gibt hier kein Richtig oder Falsch, keine moralischen Blickwinkel oder den allwissenden Betrachter.

Der Film verharrt über seine gesamte Länge in diesen schönen, sich wie ein Fluß schlängelnden Bildern, und schöpft seine Ausdrucksgewalt dabei auch aus der begleitenden Musik. Zu Beethovens „Mondscheinsonate“ spielen einige Jungen auf dem Sportplatz der Schule Football; aus dem Reigen der Gruppe löst sich Nathan (Nathan Thyson), der, von der Musik umwoben, die Gänge der Schule passiert, bis er schließlich auf seine Freundin Carrie trifft – die beiden wollen die Mittagspause außerhalb der Schule verbringen. Weitere Musik-Collagen untermalen den Schulalltag, das hektische Treiben in der Mensa, das Schnattern dreier Freundinnen beim Essen und der darauffolgenden kollektiven Bulimie-Attacke auf dem Schulklo; des Küchenpersonals während der Essensausgabe und dem späteren Attentäter Alex, der, nachdem er während des Unterrichts von Mitschülern mit Schlagsahne beworfen wurde, mit stoischer Miene die Mensa abschreitet und sich Notizen in einen kleinen Block macht. Was er da schreibe, fragt ihn eine Mitschülerin. Es sei sein Plan, entgegnet er, sie werde schon noch sehen. Alltäglich und beinahe schon banal spielen sich diese Szenen ab, kein Wort, keine Geste antizipiert das drohende Ungemach. Der Titel des Films kommt in diesen Szenen am besten zum Tragen: Elephant nennt Van Sant diese Parabel auf das adoleszente Töten, nach einem gleichnamigen Film des britischen Regisseurs Alan Clarke über den sektiererischen Bürgerkrieg in Nordirland. Gleichzeitig nimmt der Titel Bezug auf eine alte buddhistische Schrift, die von blinden Forschern erzählt, die einzelne Gliedmaßen eines Elefanten untersuchen in der Absicht, so das Gesamtwesen des großen Tieres erklären zu können. Es muß misslingen: je nachdem ob einer von ihnen den Rüssel befühlt und ihn für eine Schlange hält, ein anderer ein Bein des Dickhäuters mit einem Baum assoziiert, bietet ein jeder eine andere Erklärung zum Wesen des Tieres an, die seiner Gesamtheit nicht gerecht werden kann. Van Sant sieht hier einschlägige Parallelen zu den Erklärungsmustern und -ansätzen in den Fällen jugendlicher Amokläufer von Littleton bis Erfurt, und lakonisch fügt er hinzu: „Wir wollten nichts erklären.“ Eric und Alex sind keine hassenswerten „nerds“, die durch die Umstände oder ihr Außenseiterdasein zu Mördern werden. Die Vielfalt der Perspektiven scheint eher das Gegenteil zu belegen: sie haben nicht mehr und nicht weniger Probleme als andere Gleichaltrige auch – indes gehen sie anders damit um.

Als Van Sant im letzten Drittel des Films die beiden Jungen beim Anschauen einer Dokumentation über Nazideutschland, beim Spielen eines kruden Videospiels (den unbewaffneten Opfern wird in den Rücken geschossen) und bei der Bestellung sowie ersten Schussübungen mit einer der Tatwaffen zeigt, müssen diese Szenen als irgendwie klischeebeladene Erklärungsversuche genügen; der Regisseur entkräftet sie umgehend, er zeigt die Unwissenheit der jungen Männer über die Verbrechen des Nationalsozialismus und zeigt Alex in der vielleicht schönsten Einstellung des Films am Klavier: er spielt zärtlich und mit brüchigem Anschlag „Für Elise“. Die beiden haben ihre Tat mit Akribie geplant, und bevor sie aufbrechen, entlädt sich in einer leicht homoerotisch angehauchten Sequenz dennoch die Unsicherheit und Verletzbarkeit der jugendlichen Attentäter. Als sie das Schulgelände betreten, läuft ihnen John über den Weg, verwundert über die Kostümierung der beiden Mitschüler und instinktiv die Bedrohung der Situation erfassend. Kindlich naiv läuft er vor der Schule auf und ab, Schüler und Lehrer gleichermaßen warnend, das Schulgebäude nicht mehr zu betreten.

Im Inneren begleitet der Zuschauer dann zum letzten Mal Schüler auf ihrem Weg durch die schier unendlichen Gänge, auf die Toiletten, in die Bibliothek. Diesmal hektisch, schreiend, sterbend. Aus allen Ecken scheint gefeuert zu werden, die Bedrohung ist gesichtslos bis auf wenige Ausnahmen, Schüler, die dem Zuschauer im Laufe des Films geläufig und vertraut wurden, sterben nacheinander und völlig unpathetisch. Die Ermordung des Schuldirektors Luce mag etwas reißerisch geraten sein, doch gibt, abgesehen davon, Van Sant seine zurückhaltende Grundhaltung zur Thematik auch in diesen letzten Momenten des Films nicht auf. Beinahe ekstatisch schildern Alex und Eric sich in der Mensa gegenseitig, mit welcher Leichtigkeit sie Menschen umgebracht haben, allen voran die guten Sportler und die Streber, doch wirken sie in ihrer Schilderung nur wie begeisterte Kinder in der Ausfüllung ihres Lieblingsspiels. Dabei sind sie sich der mörderischen Dimension ihres Unterfangens ebenso bewusst wie ihres baldigen eigenen Todes.

Der Vorwurf mancher Kritik, Van Sants Haltung zu dem in Elephant beschriebenen Phänomen der Jugendgewalt sei ein indifferentes, greift eindeutig zu kurz. Van Sant gelangt in seinem Film gerade dadurch zur Meisterschaft, als er eine effektheischende Darstellung samt ihrer impliziten Deutungsmuster zugunsten einer ästhetisch reinen und beinahe schwebenden Verbildlichung umgangen hat. Die Tatsache, dass der Film an einer tatsächlichen High-School mit tatsächlichen Schülern gedreht wurde, verstärkt diese Wahrnehmung und unterstreicht das Ansinnen des Regisseurs, nicht leichtfertig mit den Gefühlen mittelbar oder unmittelbar Betroffener umzugehen. Die filmische Auseinandersetzung der Thematik ist, obschon nach Filmen wie Zero Day (oder im europäischen Film Hanekes Benny’s Video) nicht neu, doch von Van Sant nahezu stilbildend erneuert worden. Elephant ist ein cineastisches Meisterwerk von Dauer, das gleichzeitig eine Huldigung wie eine Kritik der Jugend und ihrer (selbst-)zerstörerischen Verfehlungen ist. Van Sants Freund und Mentor, der „Beat Poet“ Allen Ginsberg beschrieb es in seinem wegweisenden Gedicht „Howl“ einst mit den Worten: „I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked,…“.
Elephant besingt und beklagt in elegischen Tönen und Bildern das destruktive Genie der Generation der Nachgeborenen.(Roland Leithäuser)

Der Film läuft in der naTo im atmosphärisch wirkungsvolleren Original mit Untertiteln.

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