Siemens, Sauerkraut und Smetana

Das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig zeigt eine Ausstellung über das spannungsgeladene Verhältnis von Deutschen, Tschechen und Slowaken

Ausstellungsplakat

Wenn Tschechien und die Slowakei ab 1. Mai 2004 der EU angehören, wird Europa nicht mit Böhmischen Knödeln überschwemmt. Soviel zumindest scheint sicher. Der Gedanke an die Osterweiterung weckt in manchem jedoch Ängste und Ressentiments, die an der Wirklichkeit vorbeigehen und den Blick auf die Geschichte ignorieren. Dass das Verhältnis zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken nicht nur geprägt ist von einer Geschichte gegenseitiger Vertreibungen und aus mehr besteht als Siemens, Sauerkraut und Smetana, davon zeugen einzigartige Dokumente, die das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig in seiner aktuellen Wechselausstellung „Nähe und Ferne“ präsentiert.

Einen kleinen Beitrag leisten auf dem Weg zu mehr Nähe – das wünschen sich die Ausstellungsmacher. Ihr erklärtes Ziel: das Verbindende in der Geschichte hervorzuheben ohne die Schwierigkeiten zu vertuschen. Als ein Ableger des von Bundesmitteln finanzierten Bonner Haus der Geschichte setzt das Zeitgeschichtliche Forum somit die Reihe „Deutschland und seine Nachbarn“ fort, in der bereits das Verhältnis zu Polen, Frankreich, den Niederlanden und Russland unter die Lupe genommen wurde.

Goethe, Schiller, Schwejk

Die Ausstellung ist eine bemerkenswerte Darbietung präziser historischer Aufarbeitung eines nicht unumstrittenen Themas und eines detailgenauen, ausgeklügelten Gestaltungskonzepts. Sowohl die Inszenierung des Raumes wie der einzelnen Exponate überraschen immer wieder durch Ideenreichtum. So setzen sich sogar die Farben der Ausstellungsflächen aus Rot, Weiß und Blau zusammen, ebenjenen der tschechischen und slowakischen Nationalflagge. Diese Farben und das deutsche Schwarz-Rot-Gold tragen auch die Schrankwand mit dem Titel „Wahrnehmungen“ im Eingangsbereich, in der sich kleine Objekte unserer gegenseitigen Klischees verstecken: Ein Mercedesstern und VW-Emblem, eine Puppe des braven Soldaten Schwejk, eine Miniaturbüste von Goethe und Schiller und das Imitat einer Mahlzeit mit Kraut und Knödeln. Was jetzt kommen soll, darauf deutet dieses Spielchen hin, möchte aufräumen mit vorgefertigten Mustern und Einblick gewähren in die tatsächlichen Zusammenhänge des Verhältnisses der Nachbarn im vergangenen Jahrhundert.

Was historisch vor der Zeitspanne der „eigentlichen“ Ausstellung 1918 bis 1989 stattfand und wie das Verhältnis in der Gegenwart ist, das zeigen zwei Bereiche, die außerhalb des großen Saales liegen und somit wie Zeiten glücklicheren Zustands erscheinen, die abseits der jahrzehntelangen Schwierigkeiten liegen: zum Beispiel das „Prager Kaffeehaus“ als „Inbegriff der kulturellen Symbiose“ zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken und die Gegenwart mit dem bevorstehenden EU-Beitritt, der „Deutsch-Tschechischen Erklärung“, wirtschaftlicher Zusammenarbeit und bilateralen Kulturveranstaltungen.

Massenjubel statt Kaffee

Das „Prager Kaffeehaus“ ist eine Inszenierung, die durch ein großformatiges Foto die Stimmung vom typischen Treiben in einem Kaffeehauses vor 1918 wachruft. Zwei Tischchen und Stühle sind mit Textseiten beklebt von Werken mit Prager Autoren wie Franz Kafka, Max Brod und Rainer Maria Rilke. Sie laden ein zum Platznehmen, um in der ausliegenden wöchentlich in Tschechien erscheinenden deutschsprachigen „Prager Zeitung“ zu blättern – ein Brückenschlag in die Gegenwart. Am Rande hängt eine Ahnentafel mit lebensgroßen Porträtfotos von zwölf Literaten, auf der Rückseite Kurzbiographien, darunter ein Kasten mit ihren berühmtesten Büchern. Das Einzige, was fehlt, ist der Kaffee und die Musik. Manchmal sind von nebenan aus der Schrankwand ein paar Takte aus Smetanas „Moldau“ zu hören – von hinten lärmen aber bereits Menschenmassen aus einer Videoinstallation und die gebetsmühlenartigen Klagen eines Liedermachers, die während der gesamten Ausstellung auf den Besucher einwirken. Ob diese Antizipationen von Prag ’89 und ’68 zum Gestaltungskonzept gehören? Zumindest lässt es bereits erahnen, dass manches leider zu viel ist an dieser gut gemachten Ausstellung. Zu viel sind weder die Geräusche noch der große Multimediaeinsatz. Zu viel sind eher die Texte und Objekte – zu viel des Guten also.

Wer den Ausstellungssaal betritt, wird sich zunächst jedoch daran erfreuen. Fluchtpunkte bilden große Schaukästen, die mit Objekten und Fotos dreidimensionale „Bilder“ entwerfen wie den Schrecken der nationalsozialistischen Besatzungspolitik anhand eines Kleids mit Judenstern aus dem Ghetto Theresienstadt, dahinter ein Foto. Die Schlagwörter in großen Lettern über den Schaukästen kombinieren sich auf diese Weise nachdenklich mit anderen Themen derselben Verwandtschaft, zeigen sogar oftmals einander ihre Kehrseite. In einem gemeinsamen Blickfeld stehen in dieser Weise die übertitelten Schaukästen „Diktatur“ (gemeint ist die der Tschechoslowaken durch die Nationalsozialisten), „Flucht und Vertreibung“ (der Sudetendeutschen durch die Tschechoslowaken) und „Integration“ (der Sudetendeutschen in der Bundesrepublik Deutschland). Neben kleinen Erläuterungsschildern zu jedem Objekt führen größere Informationstafeln kompakt und eingängig formuliert hervorragend durch die Ausstellung.

Fünf Schlüsseljahre als Leitfaden

Einen weiteren Blickfang bilden zwei mal zwei Meter größe Jahreszahlen, auf die ein Bild des jeweiligen Zeitgeschehens projiziert sind wie die Gestalt Adolf Hitlers auf der des Jahres 1938. Sie materialisieren den Zeitstrahl, der der Ausstellung zugrundeliegt. Mit den dazugehörigen großen Holzflächen, die divergierend dem Besucher entgegengeneigt sind und Platz für viele Objekte bieten, dienen sie als schnelle Orientierung, und man ergründet auf diese Weise fünf Schlüsseljahre: 1918 wurde mit Ende des Ersten Weltkriegs die Tschechoslowakei gegründet aus den Gebieten Böhmens, Mährens, dem „österreichischen“ Rest des im 18. Jahrhundert vom böhmischen Staat durch Preußen abgetrennten Schlesiens und auch Oberungarns, also der Slowakei. Minderheiten wie die Sudetendeutschen hatten im neuen Zentralismus fortan mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Gleichzeitig bot die Tschechoslowakei in den 30er Jahren verfolgten Deutschen Exil. 1938 führte das Münchener Abkommen ohne tschechoslowakische, stattdessen aber mit italienischer, französischer und englischer Zustimmung zur Angliederung des Sudetengebiets ans nationalsozialistische Deutsche Reich, wenige Wochen später aber auch zur Annexion der „Rest-Tschechei“.

Die Wut auf die Gräueltaten der Deutschen entlud sich mit Kriegsende in der Vertreibung der Sudetendeutschen unter den sogenannten Beneš -Dekreten. 1948 übernahmen die Kommunisten die Macht und gliederten die Tschechoslowakei dem Sowjetischen Imperium an, wodurch neue Voraussetzungen für die Beziehungen zu den beiden deutschen Teilstaaten entstanden. 1968 öffnete sich die CSR gen Westen, Armeen des Warschauer Pakts schlugen diesen „Prager Frühling“ jedoch gewaltsam nieder. Die DDR unter Walter Ulbricht befürwortete dies und machte sich damit beim „Bruder“ unbeliebt. Dem „Feindesland“ Bundesrepublik Deutschland näherte sich die CSR erst wieder unter Willy Brandts „Entspannungspolitik“ in den 70er Jahren, zugleich hielten sich im Untergrund Kontakte zu Dissidenten. 1989 feierte die Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei und der DDR ihren Sieg.

Kann viel Gutes zu viel sein?

Trotz der Vielfalt der Darstellungsweisen – auch multimedialer Art – droht die Masse an Informationen einen manchmal zu erschlagen. Während die Schaukästen noch mit überschaubaren Darstellungen inspirieren, ermüdet schnell der Blick auf die überfüllten Holzflächen, dessen Objekte kaum hierarchisch präsentiert sind. So versammelt eine Holzfläche von der Informationstafel mit dem Titel „Schwierige Nachbarschaft“ knapp 30 Originalobjekte vom Modell einer Gas-Pipeline bis zum Strickpullover Václav Havels sowie 33 kleine Erläuterungsschilder, auf deren Kurztexte man bei vielen Objekten zwingend angewiesen ist. Allein an Holzflächen zählt die Ausstellung sieben! Und nicht genug: Der untere Rand der Holzfläche zeigt auf rotem Banner weitere Fotos und Textdokumente, die in winziger Schriftgröße knapp über dem Boden kaum noch lesbar sind, geschweige zum Lesen einladen. Ferner wollen auch noch fünf Kurzbiografien gelesen werden. Wo soll da der Blick des Besuchers hinfallen, wenn er nicht gelenkt wird? Natürlich dorthin, wohin er selbst möchte, könnte die Antwort lauten. Aber droht nicht vieles Wichtiges verloren zu gehen, wenn der Besucher seine begrenzte Aufmerksamkeit auf Peripheres richtet? Eine Ausstellung kann immer nur einen Ausschnitt zeigen. Sie kommt nicht umher, eine Entscheidung für Wichtiges und (relativ) Unwichtiges zu treffen.

Große Wirkung ohne große Worte

Die Schaukästen zeigen in hervorragender Weise, wie es anders sein kann: zum Beispiel der spartanische Ausstellungsbereich zu Jan Palach, jener Student, der sich als Protest gegen die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“ bei lebendigem Leibe selbst verbrannte und dem Tod erlag, was weltweit für Furore sorgte. Zu sehen ist ein kleines Foto mit dem Porträt von Palach, ein Erläuterungsschild und ein Foto des Wenzelsplatzes aus der Vogelperspektive, das den schleifenförmigen Trauermarsch der zehntausenden Demonstranten zeigt. Daneben: die heimlich gefertigte Totenmaske Palachs, angestrahlt vom grellen Licht eines Scheinwerfers. Eine Darstellung, die mit nur wenigen Mitteln große Wirkung erzielt. Und endlich ist auch die Musik des klagenden Liedermachers im sinnhaften Kontext zu hören – wenn auch sein Name, der Titel und die Verse leider nicht ausgeschildert sind.

Wessen Aufnahmefähigkeit aber spätestens an der Holzfläche zum „Prager Frühling“ erschöpft ist, der wird die folgenden Objekte von immenser Suggestion nur noch beiläufig beachten: das Transparent „Freiheit für Václav Havel und alle politischen und religiösen Inhaftierten in der CSSR!“, mit dem Leipziger Bürgerrechtler am 19. März 1989 an einem DDR-weiten Solidaritätstag für die verfolgten tschechischen und slowakischen Dissidenten demonstrierten. Sieben Jahre später erhielt es Havel als Geschenk, der nun als tschechischer Staatspräsident nach Deutschland angereist war.

Unvergesslich auch die selbstgenähte Fahne, die DDR-Flüchtlinge 1989 auf ihrer Fahrt von Prag nach Hof begleitete. Daneben ist ihr handschriftlich verfasster Brief zu lesen: „Diese Fahne wurde aus zurückgebliebenen Textilien genäht, am Tag, als Genscher uns den Weg in die Freiheit verkündete. Rot – war ein Teil eines Kinderschlafsackes. Schwarz – ein Herrensporthemd. Gelb – ein Kinderthüsirt“ (sic!). Auf die Mitte der Fahne ist ein winziger Adler skizziert – krumm und zerbrechlich, besser scheint er nicht machbar gewesen zu sein. Aber, so mögen sie gedacht haben, dieser merkwürdige Vogel gehört da jetzt einfach drauf, statt Hammer und Sichel.

Fahne und Brief sind lakonischer Ausdruck für die Unsicherheiten eines Neuanfangs und geben zu denken, wie sehr Symbole von Staaten konstruiert sind und mit ihnen Staaten selbst. Menschen aber verfügen über Erinnerungen, tragen Kulturen über Staatsgrenzen, -gründungen und -untergänge hinweg. Wohl deshalb ist die Ausstellung im Untertitel nicht nach Staatennamen benannt, sondern heißt „Deutsche, Tschechen und Slowaken“.

Es sind diese ausdruckstarken Originalobjekte, aber auch deren sorgfältige Präsentation und die reizvolle Rauminszenierung, die die Ausstellung lohnenswert machen. Ihr manchmal zu gut gemeinter Reichtum lädt ein zum Wiederkommen. Wer bis dahin noch mehr vom aktuellsten Zeitgeschehen erfahren möchte, greift am besten vom Tisch des „Kaffeehauses“ nach einem Gratisexemplar der „Prager Zeitung“. Die aktuelle Titelstory: „Die dunkle Seite der EU-Erweiterung“. Werden wir also doch an böhmischen Knödeln ersticken?

„Nähe und Ferne – Deutsche, Tschechen und Slowaken“

Wechselausstellung

18. März – 10. Oktober 2004, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig


Begleitbuch

Das empfehlenswerte Buch zur Ausstellung versammelt auf 176 Seiten zahlreiche Aufsätze und ist zum Preis von 19,90 € erhältlich.


Begleitprogramm

Informationen zu begleitenden Lesungen, Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen:
www.hdg.de/leipzig

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