Negerboot am Ostseestrand

Das 16. Filmfest Dresden – Festival für Animation und Kurzfilm

The Day Winston Ngakambe Came To Kiel (Bilder: Filmfest Dresden)

Wenn das herbstliche Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmfestival Halbzeit macht, liegt Sachsens Hollywood in Dresden. Mit Glamour und Lokalkolorit zieht das 16. Filmfest Dresden nicht nur Goldene-Palme- und Oscar-Gewinner an, sondern avanciert mit einem kanonischen Förderpreis des Kunstministers sogar zum höchstdotierten Kurzfilmfestival Europas.

Die Shorts entblößen die Schwächen der Großen, ließe sich hämisch formulieren. Tatsächlich würde so mancher mühsamer Langfilm in der Form des Kurzfilms (liebevoll Short genannt) eine veritable Figur abgeben. Denn der verdichtete Inhalt zwingt zur kurzen Metapher und bringt vieles auf den Punkt, was sich in stundenlangem Leerlauf oftmals verliert. Tom Tykwer (Lola rennt) drehte deshalb zur Abwechslung mit True wieder einmal „kurz“, und bewies in Dresden, dass er das Handwerk seiner Ausbildung nicht verlernt hat. Da beinahe alle großen Regisseure ihre Karrieren mit Kurzfilmen begannen, widmete das Filmfest Dresden ihnen in einer Reminiszenz das Festivalprogramm Famous Directors, das frühe Parallelen und Handschriften der späteren Stars erkunden ließ: in Säugetiere das Absurde bei Polanski, in Dear Phone den Zahlenfetischismus Peter Greenaways oder in Nichtigkeiten Jean-Pierre Jeunets Interesse für die persönlichen Vorlieben und Abneigungen seiner Protagonisten – exakt wie in seinem Amélie. Und doch zeigte sich auch, dass diese ersten Versuche eher Spielfläche als selten zugleich frühe Meisterwerke sind.

Die Komik der Deutschen

Dennoch ist der Kurzfilm immer mit den Jungen, dem Nachwuchs verbunden. Zwar widmen sich einige Filmemacher ein Leben lang ausschließlich den Shorts, weil sie prägnanter und vor allem unabhängiger von Produktionsfirmen und Verleihern seien, leider aber auch weniger ruhm- und gewinnversprechend sind. Dennoch bleibt der Kurzfilm für viele eine Durchgangsstation, und das hat in Deutschland mit den relativ zahlreichen Filmhochschulen international erfolgreiche Tradition. Die jungen Regisseure zeigten nicht zuletzt erstaunliche Schauspielerführung: Abhaun! ist ein rundes Filmstück im grobkörnigen Schwarzweiß. Der jugendliche Nico sucht die Flucht aus der ostdeutschen Provinz und findet dafür den krönenden Abschied: ein letztes liebevolles Gespräch mit einer Freundin, als deren Freund aber auftaucht, kocht nur wieder einmal mehr die Engstirnigkeit und Frustration aus Arbeitslosigkeit und Stagnation über. Es endet mit Riesenkrach, irrational und doch alltäglich. Da bleibt nur Abhaun! – und selbst Westdeutschland klingt als Ziel plötzlich irgendwie paradiesisch. Der Film teilte sich den Preis des besten deutschen Kurzspielfilms mit The Day Winston Ngakambe Came To Kiel, eine aberwitzige Parodie auf die Kolonialisierung. Nur sind die arbeitsfaulen „Neger“ diesmal bleiche Spießbürger eines Ostseestrands, die nicht schlecht staunen, als aus dem Nichts prähistorische afrikanische Boote auftauchen und ein in voller Tracht geschmückter Häuptling per Mikrofon verkündet, sein Sohn werde als König dieser Kolonie hier nun für Zivilisation sorgen.

Häschen in der Grube thematisiert mit der berührenden Schauspielleistung des 12jährigen Christopher Reinhard den Kindesmissbrauch in einer scheinbar glücklichen Familie. Jürgen in seinem Passat verblüfft mit einer urkomischen Wendung: Jürgen, der schwafelnd den kleinen Anton belehrt, niemals zu stehlen, wird zu seiner eigenen Karikatur, als sich vor seinen Augen unbemerkt die Tür eines Geldtransporters öffnet. Zur Zeit verstorben ist eine Rentner-Impression mit hochkarätigen Darstellern. Ein Großvater, von seiner Tochter für seine Demenz verhasst, findet zur Harmonie nur noch in den wirrwitzigen Dialogen der ebenfalls betagten Freunde. Allein sie und sonst nur noch sein kleiner Enkel scheinen die Welt mit so phantastischen Augen zu erblicken, dass sie zuversichtlich der bald anstehenden „letzten Reise“ entgegen sehen können, die sich ohnehin jeglicher Rationalität entzieht. Mit tragikomischer Melancholie ist der Film eine märchenhafte Hymne auf das Alter und das würdevolle Sterben. Kalkheim, für den der Weimarer Kunststudent Tobias Kipp den 20.000 Euro schweren Nachwuchspreis des sächsischen Kunstministers erhielt, spiegelt in streng komponierten Bildern die Akkuratesse kleinbürgerlicher Vorortansiedlungen mit ulkigen außerirdisch wirkenden Figuren wider.

International wird’s ernst

Komik ist – das war in Dresden zu erkennen – ein spezifisches Merkmal vieler deutscher Kurzspielfilme. Aber ihre Komik geht tiefer, ist mehr als nur witzig, sondern doppelbödig, abgründig und brisant. Daran ist nichts auszusetzen, auch wenn der ein und andere den offenen Ernst vermisst, wie es im Internationalen Wettbewerb auf einmalige Weise der mexikanische Preisträgerfilm Entre dos/Ein Ausweg vormachte. Diesem gelingt es auf geniale Weise, den Zuschauer innerhalb von zehn Minuten gleich zwei konträre Male zum bedingungslosen Opportunisten zu machen. Ein Paar sucht verzweifelt nach einem Organspender für ihr Kind und macht uns zum fassungslosen Zeugen der Ignoranz der Mitmenschen und somit zu ihrem Sympathisanten. Plötzlich jedoch bedienen sie sich zur Erfüllung ihres Ziels eines gesunden Straßenkindes, dessen Leichnam sich zudem sehr leicht entsorgen lässt. Dem Zuschauer wird es schwer gemacht, diese Eltern als Täter zu verurteilen, denn ihre Opferrolle war eben noch präsent und scheint immer noch plausibel. Diese ausbalancierte und um so schmerzhaftere Irreführung verfilmt Franco ohne jegliche Bevormundung, beobachtet mit ruhiger Hand durch die dokumentarisch anmutende Handkamera, setzt bedächtige Abblendungen und entlässt sein Publikum im Zwischenraum der Antworten.

Entre dos

Dennoch lässt Entre dos genug Platz für konstruktive Gedanken, was er dem anderen Hauptpreisträger im Internationalen Wettbewerb, dem Animationsfilm The Separation voraushat. Robert Morgan setzt mit seinen gruselig ekligen Wachsfiguren, spritzendem Blut und räumlich unterkühlter Bizarrerie auf Schockeffekt und Betroffenheit. Der Film erzählt von der geglückten Trennung siamesischer Zwillinge und ihrer unglücklichen Liebe – denn die Trennung nahm ihnen zugleich Gemeinsamkeit und Zusammenhalt. Der visuelle Reiz bleibt aber fragwürdig im Kontrast zum mageren diskursiven Potenzial der vage formulierten Moral „Trenne nicht, was Gott verbunden hat“ und einer deprimierenden Dominanz des Schaurigen. Ein Schauermärchen mit entzückendem Antlitz ist hingegen Hannes Ralls Verfilmung von Goethes Erlkönig. Der düster verführerische in blau, schwarz und rot gezeichnete Animationsfilm macht aus dem Gedicht ein expressionistisches Gruselwerk getragen von der warm rauchigen Stimme des legendären Sprechers Hans Paetsch, der noch vor Fertigstellung des Films verstarb. Andere deutsche Animationen erschienen dagegen blass, und so verwundert es einerseits nicht, dass Der Erlkönig den Preis im Nationalen Wettbewerb gewann und gleichzeitig im Internationalen Wettbewerb lief, andererseits begünstigte es auf unfaire Weise seine Siegeschancen.

Blockbuster Animation

Auch international waren zahlreiche filigran verspielte Animationen zu sehen, die aber oftmals eher als sympathisches Werk eines jahrelangen, einzelkämpferischen Schaffensprozesses und somit mehr als persönliche Erfüllung denn als großer Wurf erstrahlten. Konträr dazu gab es aufwendige und gleichermaßen genussreiche Filme wie Love Tricycle mit computeranimiert verlebendigten Fahrrädern, die Seelen und Gefühle haben und sich abenteuerlich verlieben und bekämpfen. Oder der oscarprämierte Harvie Krumpet, die bemitleidenswerte und doch lebensfrohe Knetfigur, die den weiten Lebensweg eines Pechvogels zurücklegt vom ärmlichen polnischen Elternhaus bis zur Traumerfüllung des American Way Of Life – jedoch als kettenrauchender Vollzeit-FKKler in einer Rentnerverwahrungsanstalt. Oder auch der Film L’homme sans t?te, eine Mixtur aus Animation und Spielfilm, der in seiner Opulenz an epische Blockbuster wie Titanic erinnert. In kafkaesker Manier erzählt er vom traurigen Schicksal eines wortwörtlich kopflosen Mannes, der sich für ein Rendezvous einen Kopf zulegen will. Natürlich lässt auch das Happy-End nicht auf sich warten in diesem Film, der computeranimiert glänzende Schönheit mit der bizarren Verfremdung einer Metropolis-Stadt visuell prächtig vereint und die Emotionen mit voluminösem Soundtrack untermalt. Die Goldene Palme als bester Kurzfilm in Cannes war ihm dafür sicher.

Der Erlkönig

Den Publikumspreis, das war absehbar, gewann Fotokarteschka/Das Passfoto, ein vergnüglicher Einblick in die Rumpelkammer der UDSSR. Rawal Recycle gewann den KlangMusikPreis für den experimentellen Soundtrack. Dass der surrealistisch angehauchte Spielfilm aber diesem programmatischen Titel unterstellt ist, was an die Restaurierung von Barcelonas Vorort Rawal erinnern soll, ist genauso überladen und bevormundend wie der Titel für den Film Die Auferstehung. Denn als der ewig meditierende Sohn nach einem Streit mit dem Vater verschwunden und womöglich verstorben scheint, ist nur unschwer das Ende zu antizipieren: siehe da, er wird auferstehen.

Salvador Dali und Zeichentrick made by Hitler

Trotz Kürzung städtischer Fördergelder konnte das Festival einen Publikumszuwachs verzeichnen. Und das strömte nicht nur in die Wettbewerbsfilme, sondern ließ sich ebenso vom vielfältigen Rahmenprogramm locken: Animationsfilme ausschließlich aus Frankreich, Sachsen, Potsdam oder nur für Kids, Kurzspielfilme im British Focus oder ungewöhnliche Leckerbissen wie DDR-Disco-Filme oder die Retrospektive zu Bruno Bozzetto, Schöpfer der legendären Zeichentrickfigur Herr Rossi, oder German 40s, deutsche Zeichentrickfilme aus den Jahren 1940-44. Der Disney-Fan Adolf Hitler ließ mit dem Armen Hansi eine Zeichentrickfigur schaffen, die Mickey Mouse gleich kommen sollte, aber letztlich jämmerlich bieder anmutet. Bunt und liebevoll ist der Film Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt – der Dieb aber, der die goldenen Blätter stiehlt, entpuppt sich als antisemitische Karikatur eines Juden. Noch weiter zurück in die Vergangenheit führte das Programm Surreale Cinemagination zu Ehren des hundertsten Geburtstags von Salvador Dali, der für Disney 1947 an dem Zeichentrickfilm Destino arbeitete, ihn aber unvollendet ließ. Jetzt wurde er restauriert und war in Dresden zu sehen, außerdem die zwei Koproduktionen Dalis mit Luis Bunuel: zum einen Un chien andalou/Ein andalusischer Hund (1928) mit einer der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte: die Montage einer Wolke, die durch den Mond zieht und ein Rasiermesser, das durch das Auge einer jungen Frau schneidet. Und zum anderen L’Âge d’or, mit 60 Minuten der einzige Langspielfilm des Festivals. In seiner surrealistisch wilden Konstruktion, die auf reiner Assoziation beruht, ist er auch heute noch starker Tobak – was Bunuel absichtlich bezweckte – und wirkt auf manchen Betrachter noch immer qualvoll lang. Es schien, als wollte das Filmfest Dresden mit einem zwinkernden Auge noch einmal für sich Werbung machen: Schaut lieber Shorts – die bringen’s auf den Punkt!

16. Filmfest Dresden

13. – 18. April 2004


Filmpreise des Festivals:

Internationale Jury: Andreas Hykade, Marni McArthur, Ron Dyens
Nationale Jury: Hannelore Koch, Daniel Kothenschulte, Katja Pratschke
Jugendjury: Antje Sävert, Vera Dallmann, Silvio Heinze, Nancy Auerbach, Lisa Schönthier
KlangMusikPreis Jury: Frank Geißler, Manfred Mammitzsch, Frieder Zimmermann, Robert Zimmermann

Internationaler Wettbewerb

Animation 7.500 Euro Kabel Deutschland
The Separation (Robert Morgan , GB 2003)

Spielfilm 7.500 Euro DREWAG Stadtwerke Dresden GmbH
Entre dos (Michel Franco, Mexiko 2003)

Jugendoscar Animation 1.500 Euro DREFA Media Holding GmbH
Instinkt (Roa Heidmets, Estland 2003)

Jugendoscar Spielfilm 1.500 Euro DIFA Deutsche Immobilien Fonds AG
7:35 de la ma?ana (Nacho Vigalondo, Spanien 2003)

Publikumspreis

2.000 Euro PLUSZ – Veranstaltungsmagazin der Sächsischen Zeitung
Fotokarteschka (Christina Zulauf, Schweiz 2002)

Nationaler Wettbewerb

Bester Animationsfilm 3.000 Euro Deutsches Institut für Animationsfilm e.V.
Der Erlkönig (Hannes Rall, Deutschland 2003)

Bester Spielfilm 3.000 Euro Filmverband Sachsen e.V.
Der Preis wird zu gleichen Teilen an folgende Filme aufgeteilt:
Abhaun! (Christoph Wermke, Deutschland 2004)
The Day Winston Ngakambe Came to Kiel (Jasper Ahrens, Deutschland 2002)

Lobende Erwähnung: Hervorheben möchte die Jury besondere Leistungen von Darstellern und Personenregie in drei Beiträgen:
Häschen in der Grube (Hanna Doose, Deutschland 2004)
Jürgen in seinem Passat (Sebastian Poerschke, Deutschland 2003)
Zur Zeit verstorben (Thomas Wendrich, Deutschland 2003)

Publikumspreis 2.000 Euro Mitteldeutscher Rundfunk
Zur Zeit verstorben (Thomas Wendrich, Deutschland 2003)

Filmförderpreis des Kunstministers 20.000 Euro
Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst
Kalkheim (Tobias Kipp, Deutschland 2002)

KlangMusikPreis

Bester Soundtrack (international/national) 3.000 Euro Europäisches Zentrum der Künste Hellerau mit Unterstützung von Stefan Heinemann, Deutsche Werkstätten Hellerau GmbH, Grundbesitz Hellerau GmbH, Flughafen Dresden GmbH
Rawal Recycle (Regie: Marc Giralt, Musik: Jens Neumaier, Spanien 2003)

Lobende Erwähnung:
True (Regie: Tom Tykwer, Musik: Tom Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil, Deutschland 2004)
Seventeen (Regie, Musik: Hisko Hulsing, Niederlande 2003)
Gömd i Tiden, (Regie: Jens Jonsson, Musik: Johan Ramström, Martin Willert, Carl-Johan Ankarblom, Schweden 2003)


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