Zorniger Lärm?

Das Callithumpian Consort aus Boston spielt Musik von John Zorn

„Fahr‘ mit dem Fahrrad um ein Uhr mittags den Broadway runter, und du wirst alles erleben, was in unserer Musik steckt.“ Das verkündete der New Yorker Komponist und Altsaxophonist John Zorn noch Mitte der 80er Jahre. Er gehörte damals zusammen mit Wayne Horvitz, Arto Lindsay, Elliott Sharp, David Moss und anderen zu einer Gruppe von Musikern, die von der Jazzszene, insbesondere dem Free Jazz geprägt worden waren und nun mit neuen musikalischen Formen experimentierten, die sich mit der politischen, ökologischen und humanen Tristesse der 80er auseinander setzten. Es entstand der sogenannte No Wave, auch Noise-Musik genannt. Diese Musik war erbarmungslos, aggressiv, brutal und vor allem laut! Versuchte man zuvor noch im Free-Jazz lange, wenn möglich ekstatische Spannungsbögen in gemeinsamer Kollektivimprovisation zu erschaffen, so war das Anliegen der No Wave-Musiker genau das Gegenteil, nämlich Zertrümmerung und Atomatisierung von Formabläufen. Klänge wurden isoliert und wechselten blitzschnell, Collagetechnik bestimmte diese Musik. Der destruktive Charakter des No Wave resultierte aus den Lebensumständen der Musiker, ihrer Umwelt, und diese sollte nicht reflektiert oder verarbeitet, sondern ungeschminkt und illusionslos dargestellt werden.

John Zorn war (und ist) einer der Protagonisten dieser musikalischen Bewegung. Da lag es für das Callithumpian Consort aus Boston nur nahe, die mit seinem Namen verbundene Konnotation zum Programm zu machen und mit ihr zu spielen: das Consort versprach einen Abend unter dem Motto Lärm! und viele Mutige fanden sich im Mendelssohn-Saal ein, um dem Spektakel beizuwohnen – sie waren auf alles eingestellt, nur nicht auf das, was dann kam…

…ein Klavichord, ein Instrument also, welches schon zur Barockzeit als das leiseste galt, intoniert einen Hauch von einer Melodie, Streicher setzen ein, mit Klang-Wolf-Dämpfern, um so leise als irgend möglich die musikalisierte Stille zu begleiten. Kein Zuschauer atmet, alle im Saal Anwesenden harren dem, was da noch kommen mag. Doch, nichts, nichts passiert. Die entsetzlich schöne musikalisierte Stille fließt dahin und denkt überhaupt nicht daran loszupreschen und die Zuhörer zu erschrecken, nein, sie bleibt was sie ist: Meditation über die Grenze des Hörbaren. Das Stück heißt Schibboleth. Schibboleth ist ein Sprach-Code, den die alten Israeliten benutzten, um sich von den feindlichen Stämmen abzuheben. John Zorn hat es dem Dichter Paul Celan gewidmet. Doch die Bedeutung des Stückes bleibt verschlüsselt, undurchsichtig – Zorn scheint es wichtiger zu sein, den Hörer an die Hand zu nehmen und ihm zu sagen: Hör zu! Konzentriere Dich! Was hörst Du?

Dem folgt ein Stück mit dem Titel Carny für Piano solo. Stephen Drury steht vor der äußerst schwierigen Aufgabe, Versatzstücke aus Kompositionen von Chopin, Liszt, Copland, Ives, Carter, Stockhausen und anderen, sowie unterschiedlichste Musikgattungen und Stile, die wiederum verschiedene Spieltechniken erfordern, so zu spielen, dass es nicht als das erscheint, was es eigentlich ist – Stückwerk, Nebeneinandergestelltes. Zwar hat Zorn Übergänge geschaffen, aber das Tempo bzw. die Tempi sind so schnell, die Wechsel der Versatzstücke so rasant, dass es an Wahnsinn grenzt, aus diesem Wust ein klingendes Ganzes zu formen. Aber Drury macht dies meisterlich und kontrastiert das Divergente mit Bravour. Man hört nichts von der Knochenarbeit die dahintersteckt. Das Gespielte wirkt organisch und leichtfüßig, trotz der vielen Brüche in der Komposition.

Ein surrealistisches Liebesstück mit dem Titel Amour Fou schließt daran an. Es basiert auf sich wiederholenden wenigen Geigentönen, die das Material für das gesamte Stück liefern. Hypnotisch repetierende Muster werden hörbar, lyrisch-nostalgische Melodien erklingen, die ab und an in gewaltigen Ausbrüchen – wohlgemerkt nicht an der Schmerzgrenze, wie man vermuten könnte – kulminieren. Zorn will mit diesem Stück nach eigenem Bekunden die Obsession der Liebe zum klingen bringen, mit all ihren Stimmungen. Und wir hören sie, ja, wir hören sie!

Das Konzert endet mit einem längeren Stück, das den Titel Duras trägt. Es ist eine Hommage an die französische Kultur und im besonderen an Marguerite Duras. Das Stück ist von Zorns Arbeit im Tonstudio inspiriert, das er als Musikinstrument begreift. Die Partitur ist vorrangig in reinen Zeiteinheiten notiert, in Minuten und Sekunden. Es gibt verschiedenste Handlungsanweisungen, aber auch Fragmente herkömmlicher Notation. Die vier Sätze gehen ineinander über, stocken, laufen weiter. Die Zeit dehnt sich, Augenblicke werden hörbar, vergehen, Unruhe entsteht, schwindet, macht Platz für Gedankenverlorenes. Am Ende verfliegt die Musik, endet unvorbereitet, lässt die Hörer zurück, und die sind sprachlos, überrascht und dankbar dafür, dass ihre Erwartungen enttäuscht wurden.

Callithumpian Consort spielt Musik von John Zorn

Stephen Drury – Piano, künstlerischer Leiter
Gabriela Díaz – Violine
Wendy Richman – Violine, Viola
Benjamin Schwartz – Violoncello
Yukiko Takagi – Piano, Klavichord, E-Orgel
Timothy Feeney – Schlagwerk, Perkussion

28. April 2004, Mendelssohn-Saal des Gewandhauses

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