Die „Nippon Connection” bringt junges japanisches Kino nach Leipzig (Juliette Appold)

Nippon Connection on tour
3. Japanische Filmtage Leipzig
die naTo, Kinobar Prager Frühling, Ilses Erika
22.4. – 2.5.2004All About Lily Chou-Chou
Japan 2001, 146 min, OmeU
Regie: Shunji IWAI
Darsteller: Darmit Hayato ICHIHARA, Shugo OSHINARI, Ayumi ITOJosée, The Tiger And The Fish
Japan 2003, 116 min, OmeU
Regie: Isshin INUDO
Darsteller: Satoshi TSUMABUKI, Chizuru IKEWAKI,

(Bilder: Verleih)
Entgegengesetzt

Zweimal junger japanischer FilmDie Japanischen Filmtage in Leipzig entwickeln sich zur Institution. Bereits zum dritten Mal jährt sich der Ableger des größten japanischen Film- und Kulturfestivals Europas, dem Nippon Connection in Frankfurt am Main. Aus der wohlsortierten Auswahl, die ihren Weg nach Leipzig fand, stammen die nachfolgenden Eindrücke von den Geschichten zweier Filme, die so entgegengesetzt und doch verwandt sind.

All About Lily Chou-Chou

Der 14jähre Y?ichi ist sanftmütig, gutgläubig. Er redet nicht. Er chattet lediglich im Internet. Sein Chat unterbricht die Bildfolgen des Films. Seine Gedanken kreisen um die Texte und die Musik von Lily Chou-Chou. Worte aus verschiedenen Songs tippt er in die Cyber-Welt. Das Traumhafte, die irreale Welt, „The Ether“ hält ihn am Leben. Die Musik von Lily Chou-Chou ist die Welt für ihn. Überhaupt scheint er nur in einer unwirklichen und in der Welt der Musik leben und überleben zu können. Er steht außen vor. Genauso wie in einer der letzten Szenen des Films. Als er gutgläubig einem Mitschüler seine Karte für das seit Jahren ersehnte Lily Chou-Chou-Konzert anvertraut. Als dieser Mitschüler kurz vor dem Eintreten in die Konzert-Arena eben diese Karte vor den Augen des Sanftmütigen wegschmeißt, um ihn aufs Tiefste zu verletzen. Da steht er nun – außen vor. Vor der Leinwand, auf der das Spektakel der Sängerin übertragen wird. So ist das. So war es immer. Die „wahre“ Umwelt um Y?ichi ist zerstörerisch. Die Schule ist eine einzige Folterkammer. Nein, nicht die Lehrer. Sie scheinen eher vom Typ „68er“ zu sein, welche ihre Schüler sanft ansprechen und um Mitarbeit bitten. Es sind die unkontrollierbaren Schüler- und Schülerinnen-Cliquen, die merken, daß sie Macht haben „dürfen“. Außerhalb des laschen Unterrichts. Sie haben eine zerstörerische Macht an sich gerissen. „Für wen hältst Du Dich? Glaubst Du, Du bist was Besseres, nur weil Du intelligent bist?“ Prügel, Vergewaltigung, Folter, Erniedrigung, Mord. Cliquen mit einem „Chef“. Alles ist legitim, um den Menschen mit besonderen Merkmalen oder Fähigkeiten aus dem erbärmlichen Durchschnitt herauszukriegen. Wer Gefühle zeigt, bezahlt mit Schmerzen. Wer Intelligenz erahnen läßt, wird vergewaltigt. Wer nicht angreift, wird angegriffen. Wer nicht mitmacht, wird gewalttätig ausgestoßen. Wer sich bereits selber aufgegeben hat, wird umgebracht. Entweder Du erniedrigst, oder Du wirst erniedrigt. Bis auf die allerunterste Ebene. So geht es auch der intelligenten und hochmusikalischen heimlichen Liebe des Protagonisten, deren „Erkennungsmelodie“ Debussys „Arabesque“ ist. Sie ist still, lieblich und spielt Klavier. Doch statt Achtung dafür zu bekommen, wird sie verachtet, ausgestoßen, vergewaltigt. Ihre impressionistische, liebevoll gespielte Musik durchzieht – neben Musik von Björk und Lily Chou-Chou – den gesamten, grausamen Film und hinterläßt einen merkwürdigen Eindruck. Ein sehr bedenkenswerter Film, der einen mit der Grundidee alleine läßt: wer in dieser Schule etwas von sich zeigt, hat bereits verloren.

Josée, The Tiger And The Fish

Ganz anders der Film über Josée, The Tiger and The Fish. Eine Liebesgeschichte. Zwischen einem Studenten und einem behinderten Mädchen, welches von der Großmutter aufgrund der Unbeweglichkeit ihres Unterkörpers, seit jeher versteckt wird. Das Mädchen ist bis zu dem Tag, an dem sie von dem Studenten „entdeckt“ wird, verstört, aggressiv. Sie hat Angst vor der Umwelt. Verständlicher Weise. Denn auch hier lernt man sehr bald: wer nicht der „Norm“ entspricht, hat es schwer. Sehr schwer. Und auch die Liebe vom Studenten wird diese Hürde nicht überwinden. Nein, er flüchtet am Ende. Denn ihm ist klar, daß weder seine Familie, noch sein Umfeld eine Liebe zu einem „besonderen“ Menschen erlauben kann. Und er fügt sich diesem Druck. Er sagt: Ich gab ihr tausend vernünftige Gründe, warum wir uns trennen mußten. Aber wirklich gab es nur einen: Ich bin weggerannt. – Wo doch die Liebesgeschichte so viel Wahrheit und Schönheit in sich trug. So viel Freude, glückliche Momente und echtes Gefühl. Josée nannte sich das Mädchen selbst, nach einer Romanfigur von Francoise Sagan. „Eines Tages wirst Du mich verlassen.“ Und weil sie davor Angst hat, läßt sie sich von ihrem Geliebten in den Zoo bringen. Denn sie will der verbildlichten Angst, dem Gefühl der größtmöglichen Angst, gegenüberstehen: ein brüllender Löwe. Sie stellt sich dieser Angst, weil sie sagt: sollte ich mich jemals verlieben, muß ich der Angst ins Auge sehen. Das Paar geht in ein „Fisch“-Hotel, in dem durch Lichteffekte jeder Raum wie eine lebendige Unterwasserwelt erscheint. Fische will sie sehen, denn sie fühlt sich wie eine Muschel, die endlich zum ersten Mal aufgetaucht ist. Ja, er verläßt sie am Ende. Und doch: Ihr Leben ist für immer verändert. Sie hat keine Angst mehr vor dem Leben. Und so erweist sie sich eigentlich als die stärkere Persönlichkeit.

Was haben nun beide Filme gemeinsam? Wenig. Und doch: Beide haben einen kleinen roten Faden aus der französischen Kultur. In Lily Chou-Chou ist es Debussys impressionistische Klaviermusik. In Josée sind es ein paar Worte aus einem Roman von Francoise Sagan. Und in beiden Filmen zeigt sich, wie unüberwindbar und gnadenlos Gesellschaften sein können, die keine Individualität oder individuelle Besonderheiten gelten lassen. (Juliette Appold)

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